Rettung in letzter Sekunde

Eva-Maria Fontaine

von Eva-Maria Fontaine

Story
Hürth 1965


Im oberen Teil von Fischenich lag meine Schule, die Martinus-Volksschule und mein Bruder hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich an diesem einen Tag persönlich von dort abzuholen. Nicht zu Fuß, das wäre ihm zu langweilig gewesen, nein mit dem Roller. Das war kein Roller im heutigen Stil, mit schmalem Trittbrett, schmalen Reifen und womöglich noch elektrisch betrieben. Nein unser Roller, den mein Vater uns drei Kindern zu Weihnachten geschenkt hatte, besaß Reifen, so breit wie eine Kinderhand und ein doppelt so breites Trittbrett. Das in deutscher, damals noch angesehener, Wertarbeit hergestellte Gestell glänzte hellgrün, passend zum Weihnachtsbaum. Und mit diesem Tretroller erwartete mich Willy schon ungeduldig vor dem Schultor. Meinen Schulranzen verstaute er kurzerhand auf dem hinteren kleinen Gepäckträger und dann ging es los. Wobei es mir vollkommen gereicht hätte, wenn mein großer Bruder den Roller geschoben hätte und ich ihm, erleichtert von meinem schweren Gepäck, auf unserem Heimweg von meinem Schulvormittag erzählt hätte, von der Stunde Schönschreiben mit Herrn Schmitz oder von Religion mit Pastor Krause. Aber Willy hatte andere Pläne: Um diese umzusetzen, sollte ich auf dem Roller Platz nehmen, möglichst nah am Hinterrad, damit er vorne als Rollerkapitän das Zweirad kräftig antreten und in Schwung bringen konnte. Richtig mulmig wurde mir, besonders, als wir die Schmittenstraße ansteuerten und der Roller volle Fahrt aufnahm. Ich kam mir vor wie in einem Rennwagen, der Wind blies uns entgegen und das Zweirad schien nicht mehr zu stoppen zu sein. Geistesgegenwärtig riss mein Bruder den Lenker in letzter Sekunde um in die Drafenstraße, doch nun erschien vor uns eine riesige weiße Betonwand. Ich ahnte, dass meine letzte Stunde geschlagen hatte. ‚Hilfe, Hilfe, Mama, Mama‘, das waren meine letzten Worte. Mein oder besser unser Schicksal schien besiegelt zu sein. Aber dann, so als ob mein Schreien Wirkung gezeigt hätte, schaffte es Willy tatsächlich, den Roller in allerletzter Minute nach rechts zu ziehen und wir waren gerettet. Es kam mir vor wie ein Wunder.  Wir umarmten uns und mein Bruder schob den Roller tatsächlich, während wir uns gegenseitig schworen, den Eltern nichts von unserem Abenteuer zu erzählen. Denn das Rollerverbot wäre unausweichlich gewesen. Besonders schlimm für meinen Bruder, ich stieg nach diesem Schreckenserlebnis auf das Fahrrad um. Mit einem geliehenen Drahtesel radelte ich seitdem meist im Zweiergespann mit meiner besten Freundin auf flachen, gut befestigten Wegen durch die Gegend. Später wurde ich selbst stolze Besitzerin eines gebrauchten Fahrrads. Als Kapitänin auf meinem Drahtesel fühlte und fühle ich mich immer noch sicher.


Und wenn es einmal brenzlig wird, dann denke ich zurück an unser Rollerabenteuer, und an unsere Rettung in aller-, allerletzter Sekunde.


© Eva-Maria Fontaine 2024-09-27

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich