Reverie – Tor in eine andere Welt

Juliane Schon

von Juliane Schon

Story

Part 6 – Roselyn

Einem Fremden folgt man nicht, unter keinen UmstĂ€nden, sagte mir meine Mutter immer. Aber genaugenommen ist er nicht völlig fremd. Irgendetwas in meinem Verstand hat ihn hergeholt. Das ist auch nicht die RealitĂ€t, also kann ich jederzeit aufwachen, wenn dieser Mann mir eigenartiger vorkommt, als ohnehin schon. Außerdem ist es mein Verstand, also muss ja irgendwie mein Unterbewusstsein entscheiden, wo es langgeht. Diese logischen Schlussfolgerungen begleiten mich, wĂ€hrend mich William Augustus Partridge zu einer schwebenden BrĂŒcke fĂŒhrt, die die Klippen mit einer Insel in der Ferne verbindet. Doch diese ist nirgends angenagelt oder befestigt. ,,Auf gar keinen Fall.“, verkĂŒnde ich, als ich mit zusammengepressten Lippen in die Tiefe schaue, die unter der fragwĂŒrdigen BrĂŒcke droht. Da ist ein kleiner Spalt zwischen BrĂŒcke und Festland, geradeso schmal genug, um die BrĂŒcke mit einem Schritt zu erreichen. William dreht sich mit amĂŒsierten Blick zu mir, er steht bereits auf den Holzdielen und reicht mir die Hand. ,,Wie ist das nur möglich…?“, frage ich zögerlich, als ich schließlich kopfschĂŒttelnd einwillige. ,,Sagen Sie es mir, das ist Ihr Traum.“, achselzuckend schreitet er voran.

Mit jedem Schritt, den wir zurĂŒcklegen, Ă€ndert sich unsere Umgebung. Die Farben werden krĂ€ftiger, der Himmel strahlender. Die Hitze wird verdrĂ€ngt von einem angenehmen Windzug und in der Ferne ertönen schallartig die faszinierendsten GerĂ€usche, die ich keiner mir bekannten Tierart zuordnen könnte. Vor uns liegen nun zwei goldene Tore, umrandet von hohen Mauern. Dahinter erkenne ich TĂŒrme und FachwerkhĂ€user, die auf einem Berghang stehen. Ganz oben am Gipfel befindet sich ein Schloss, fast wie Glas, oder ein Diamant, der aus dem Erdboden hervorragt. Mit einem breiten LĂ€cheln und einem Strahlen in den Augen dreht sich William wieder zu mir, wĂ€hrend sich hinter ihm fast auf Kommando die Tore langsam öffnen. ,,Willkommen in Reverie.“, verkĂŒndet er feierlich und breitet die Arme aus.

Der Anblick einer bezaubernden Stadt wird durch die geöffneten Tore frei. Die Straßen sind sauber und es duftet nach GebĂ€ck und anderen Köstlichkeiten, die auf dem Markt serviert werden. Das sanfte Wellenrauschen des Meeres um die Insel herum begleitet die Schritte und aufschlagenden Hufe der Pferde, die Kutschen ziehen. Paradiesische Pflanzen wachsen an den Stellen, an denen der Asphalt fehlt. Mir erscheint es auf einmal, als sei ich durch die Zeit gefallen, in eine völlig andere Welt.

© Juliane Schon 2022-06-13

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