von Sandra Scheiber
Romy blickte aus dem Fenster, doch in Gedanken war sie weit weg. Selbst den atemberaubenden Anblick der dunkelroten untergehenden Sonne bemerkte sie nicht. Viel zu groß waren ihre Schuldgefühle. Sie sollte nicht hier sein. Sie sollte bei ihrer Familie sein. Zu Hause, und sich um ihren Sohn und ihren Ehemann kümmern. Auch wenn letzterer sich schon lange nicht mehr um sie kümmerte. Zu lange ist es schon her, als er sie herzlich umarmte, sie küsste oder auch nur ein Wort der Liebe für sie übrig hatte.
Romy wurde jäh aus ihrer Melancholie gerissen, als sie sanfte Küsse an ihrem Nacken spürte. Sie drehte sich um und blickte in Tims Augen, die sie stets verliebt anstarrten. Ein wohliger Schauer breitete sich in Romy aus. Sie küsste ihn leidenschaftlich und verdrängte jegliche negativen Gefühle. Zusammengekuschelt und glücklich lagen Romy und Tim unter der weißen Decke. Romy konnte Tim alles erzählen, von kleinen Albernheiten bis zu den tiefsten und dunkelsten Gefühlen. Einfach alles. Sie hatte bereits aufgegeben, dies von ihrem Mann zu erwarten. Schon lange brachte Alex ihr kein Interesse mehr entgegen. Seine harte und bedachte Art machte jeden noch so kleinen Funken an Liebe und Vertrautheit über die Jahre zunichte. Der einzige Grund, warum sie sich noch nicht getrennt hatte, war ihr Sohn. Ben. Romys großer Schatz. Ihr blonder Engel, den sie um alles in der Welt beschützen wollte. Erneut schaffte Tim es, Romy aus ihren Gedanken zu reißen und fing an sie zu kitzeln. Das herzhafte und unbeschwerte Lachen half ihr sich von der Dunkelheit, welche sich über sie auszubreiten drohte, loszureißen. Tim wusste stets, was er machen musste, wenn Romy wieder mit ihren dunklen Gedanken kämpfte. Als das Kitzeln in leidenschaftliche Berührungen wechselte, wurde aus kindlichem Spaß plötzlich eine erotische Stimmung. Die Liebenden hielten inne. Romys dunkelgrüne Augen blickten direkt in Tims Seele. Sie liebte ihn. Diesen jungen, ungestümen aber unglaublich liebevollen Mann. Tims schwarze Haare fielen ihm neckisch in die Augen und Romy konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie zog Tim zu sich und küsste ihn ungestüm. Eng umschlungen genossen beide die Zweisamkeit. Kein schlechter Gedanke. Kein dunkler Schleier. Nur sie. Romy und Tim. Zwei Menschen, die sich zum falschen Zeitpunkt trafen. Als es zu spät war. Zu spät für ein unbeschwertes Leben zu zweit. Jetzt saßen sie hier. In einem Hotelzimmer und mussten die Gefühle, welche sie füreinander empfanden, vor allen verstecken. Ein stechender Schmerz ließ Romy innehalten. „Was ist los?“, wollte Tim wissen.
Ein Blick nach unten verriet ihm den Grund für das plötzliche Ende. Romy konnte fühlen, wie das ungeborene Baby in ihrem Bauch boxte und um sich schlug. Fast so, als wolle sie Mama davon abhalten etwas Böses zu tun. Unwillkürlich strich Romy über ihren Bauch. Sie wollte sich entschuldigen. Für das Leben in das dieses unschuldige Wesen hineingeboren werden würde. Und da war er wieder, dieser dunkle Schleier der Traurigkeit.
© Sandra Scheiber 2024-01-20