Rosinha

Smiles

von Smiles

Story

Vor einiger Zeit war ich beruflich in Brasilien unterwegs, und da mein Portugiesisch leider immer noch zu wünschen übrig lies, wurde für mich eine Privatlehrerin engagiert. Rosinha hatte ein abgeschlossenes Studium in Portugiesisch und Englisch und arbeitete nicht weit von meiner Firma entfernt. So trafen wir uns jeden Nachmittag nach der Arbeit zu einer Unterrichtseinheit. Rosinha war 27 Jahre alt, hübsch, intelligent und sie saß in einem Rollstuhl.

Nachdem wir von nun an jeden Nachmittag miteinander verbrachten, lernten wir uns auch besser kennen. Oft lagen wir fast unter dem Tisch vor lachen, wenn wir zusammen schmalzige brasilianische Gedichte übersetzten oder ich ihr von den Missgeschicken meiner Konversationsversuche berichtete. Dazu muss man wissen, dass im Portugiesischen einfache Worte wie „Brot“ wenn man sie falsch ausspricht sehr schmutzige Dinge bedeuten können. So stand ich dann als weißer Ausländer beim Bäcker und bestellte schüchtern ein Brot. Das Lachen der anwesenden Brasilianer war wohl noch weit zu hören, genau so wie das Lachen von Rosinha als ich ihr am Abend davon erzählte. Doch obwohl ich mit Rosinha alle Dinge des Alltags besprechen konnte wich sie immer aus, wenn das Thema auf ihren Rollstuhl kam. Es sei eine brasilianische Geschichte meinte sie, die ich nicht verstehen würde.

Mein Portugiesisch wurde laufend besser und nach etwa einem halben Jahr konnte ich mich schon recht fließend unterhalten. Ich sprach auch mit Rosinha nur noch portugiesisch und so war es absehbar, dass mein Unterricht bald enden würde. Eines Abends fragte ich Rosinha daher, ob sie mir nicht endlich die Geschichte ihres Rollstuhls erzählen würde. Immerhin wäre ich jetzt ja schon ein bisschen Brasilianer. Sie lachte und stupste mir in die Seite, aber sie gab mir Recht.

Rosinha war nicht immer im Rollstuhl gesessen. Sie hatte eine Verwachsung an der Wirbelsäule, wodurch ihr das Gehen immer schwerer fiel, bis sie es mit etwa 17 Jahren nicht einmal mehr mit Krücken schaffte. Eine einfache Operation hätte genügt, damit Rosinha wieder normal laufen hätte können. Aber in Brasilien gibt es keine staatliche Krankenversicherung, und so blieb ihr nichts anderes übrig als zu sparen. Sie fuhr nicht in Urlaub, sie gönnte sich keine neuen Kleider und ging auch nie ins Kino oder mit Freunden etwas trinken. Sie hatte sich ausgerechnet, dass sie etwa noch zehn Jahre brauchen würde, um ihr Ziel zu erreichen.

Ich glaube Rosinha hatte recht. Wir Europäer können wirklich nicht verstehen, wie es ist, wenn man seit Jahren im Rollstuhl sitzt, weil man sich die notwendige Operation nicht leisten kann. Wie es ist, zuzusehen, wie alle Freunde heiraten, Urlaube machen, Kinder bekommen, während man selbst jeden Tag arbeitet, um sich irgendwann in ferner Zukunft vom Rollstuhl loskaufen zu können. Und vor allem wissen wir nicht, wie man statt daran zu verzweifeln so lebenslustig, energievoll und fröhlich sein kann wie Rosinha.

Gekürzte Fassung

© Smiles 2021-08-18