von Carina Senger
Ich hatte die ersten Wochen bei meiner Gastfamilie unbeschadet überstanden – und die beiden Kinder, auf die ich aufpasste, erstaunlicherweise auch. Ich war von Natur aus nicht übermäßig ängstlich, aber im Nachhinein bewunderte ich die Ruhe, mit der meine Gastmutter mir ihre Kinder anvertraute. Denn Paris war nicht nur eine aufregende Großstadt – hier galten auch ganz andere Regeln als in Deutschland, besonders im Straßenverkehr.
Jeden Nachmittag holte ich die Kinder von der nahegelegenen Schule ab. Der Heimweg war nicht besonders lang, aber wir mussten zwei Straßen überqueren. Nach der Schule strömten die Schüler in Begleitung ihrer Nannys, Mütter oder Au-pairs nach Hause, während gleichzeitig der Feierabendverkehr die Straßen verstopfte. Aber egal, ob der Verkehr stockte oder ob die Autos freie Fahrt hatten – die Ampeln schienen in Paris eher als freundliche Empfehlungen verstanden zu werden. Für mich war eine rote Ampel hingegen eine unmissverständliche Aufforderung, die Straße nicht zu überqueren. Und so blieb ich brav stehen und wartete, bis sie grün wurde. Dann lief ich im festen Vertrauen darauf los, dass die Autos halten würden.
Manche hielten tatsächlich. Viele andere aber nicht. Stattdessen rollten sie ungebremst auf mich zu, als gäbe es die Ampel gar nicht. Wenn ich mit den Kindern die Straße überquerte und ein Auto nur wenige Meter vor uns abbremste, hielt ich jedes Mal den Atem an. Die Autofahrer äußerten ihren Unmut darüber, dass sie meinetwegen bremsen mussten, deutlich: Von wildem Hupen bis zu lauten Beschimpfungen war alles dabei.
Eines Tages wartete ich mit den Kindern an der Ampel, als ich eine Mutter ihrem Sohn mit ernster Stimme einschärfte: „Du darfst dich niemals auf die Ampel verlassen. Du musst immer schauen, egal ob die Ampel rot oder grün oder ausgeschaltet ist. Bevor du über die Straße gehst, schaust du IMMER, ob ein Auto kommt, okay?“ Ich betrachtete die Frau nachdenklich. War es in Paris wirklich üblich, dass Autofahrer keine Rücksicht darauf nahmen, wenn der Gehsteig vor Schulkindern nur so wimmelte? Offenbar nicht. Denn ich erlebte es mehr als einmal, dass ich bei Grün mit den Kindern über die Straße ging und trotzdem angehupt oder angepöbelt wurde.
Mit der Zeit gewöhnte ich mir an, es wie die Pariser zu machen. Anstatt nur auf die Ampel zu schauen, beobachtete ich die Autos. Zwar überquerte ich die Straße trotzdem nur, wenn die Ampel grün war. Aber ich begriff, dass ich auf den Pariser Straßen nicht lange überleben würde, wenn ich darauf vertraute, dass die Autos an roten Ampeln auch wirklich bremsen.
© Carina Senger 2025-04-09