Rotkäppchens Rache

Hannes Zeisler

von Hannes Zeisler

Story

Heute ist es wieder passiert! Ich streiche prüfend über meine Nase und entdecke das permanent wiederkehrende schwarze Hexenhärchen darauf. Mit Pinzette, Taschenlampe und Spiegel rücke ich ihm zu Leibe! In Anbetracht dieses Ärgernisses beginnst du mit der Ursachenforschung.

Automatisch fällt mir meine Schuleinschreibung im Jahre 1941 ein. Begleitet hat mich meine ältere Schwester Elfriede, da sich meine Eltern in diesen Belangen nicht so engagierten. Der Vater war sechs Tage in der Woche arbeiten und meine Mutter hatte – damals – fünf Kinder, einen Haushalt und eine kleine Landwirtschaft zu besorgen. Sie war mehr als ausgelastet.

Die Einschreibung nahm Frau Berta W., die Elementarlehrerin, vor. Ich lernte sie als mütterliche, aber auch sehr konsequente Pädagogin kennen und schätzen.

In Erinnerung ist mir geblieben, dass sie mir – in Ermanglung von Zuckerln – einen Würfelzucker zusteckte. Es war die harte Kriegszeit und diese Aufmerksamkeit wurde von mir als netter Willkommensgruß empfunden.

Ihre disziplinären Maßnahmen bestanden bei mir, wenn ich offensichtlich einmal nicht ganz brav war, darin, dass sie mir mit Zeigefinger und Mittelfinger einen „Klaps“ auf die Wange gab oder mich mit drei Fingern ein wenig beim Haarbüschel zog.

Diese wunderbare Lehrerin brachte mir Lesen, Schreiben und Rechnen bei, weil sie auch schon zu der Zeit sehr kindesadäquat unterrichtete. Auch das Musische spielte bei ihr eine große Rolle.

Die Gestaltung von Märchen war ihr ein besonderes Anliegen.

Eines Tages stand das Märchen „Rotkäppchen“ auf dem Programm. Die einzelnen Rollen wurden verteilt. Ob es eine entsprechende Adjustierung gegeben hat, weiß ich nicht mehr. Vermutlich wurden die Gesichter zumindest geschminkt.

Ich war als böser Wolf auserkoren und erhielt die nötigen Regieanweisungen: böse schauen und knurren!

Als ich dem Rotkäppchen gegenüber trat und so tun musste, als ob ich sie fressen wollte, entdeckte ich bei dem lieblichen Kind eine Warze mitten auf der Nase! Da konnte ich mich nicht überwinden, das arme Mädchen zu „fressen“ und verweigerte die Anordnungen.

Das gefiel meiner geliebten Lehrerin aber gar nicht und sie betraute einen willigeren Schüler mit der Rolle des Wolfes.

Es muss wie Hexerei gewesen sein, dass mir nun als „Rache“ immer wieder an der gleichen Stelle wie beim Rotkäppchen auf meiner Nase ein Härchen sprießt und trotz Auszupfens sich nicht endgültig beseitigen lässt!

© Hannes Zeisler 2020-08-20

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