von Johann Geitner
Widerstrebend, zunehmend zögerlich und mit wachsendem Unbehagen schritt Kunigunde Fuß um Fuß voran, Richtung Schule, dem Hort des Wissens. Für sie war es gleichsam eine Quelle fortwährender Erniedrigung. Mit gesenkten Schultern und geneigtem Kopf stierte sie auf das Pflaster, hoffte, der Weg möge sich endlos hinziehen. Für die ersten groben Späße würden sie Kunigunde bereits am großen Eingang zur Aula abpassen, Überraschungen konnte sie nicht erwarten, nur Sicherheiten. Einzig neue, bislang noch nicht erduldete, Gemeinheiten würden eine unerwartete Abwechslung bieten. Gut möglich, dass es mit ihrem Vornamen angefangen hatte. Ihre Mitschülerinnen durften sich mit coolen und angesagten Namen rufen lassen, Mia, Lena, Helene, Nina. Sie besaß den Vornamen einer alten Frau. Auf einen zweiten Vornamen konnte sie nicht ausweichen, einen Tarnnamen nicht vortäuschen. Immerzu wurde sie von den Lehrkräften mit ihrem ungeliebten Vornamen angesprochen. Oma Kunigunde, so hatten die ersten Frotzeleien begonnen. Eigentlich hätte sie ihre Eltern für diesen Namen hassen müssen, das wollte sie jedoch nicht. Sie wollte ihnen eine gute Tochter sein. Gelegentlich fragte sie sich, welche vor Urzeiten verstorbene Ahnin Anreiz zu ihrem Namen gegeben hatte. Kunigunde von Arnstein, oder so. Im Mittelalter in Adelskreisen klang das sicher gut. Sie argwöhnte, dass ihr Vater mit der Namenswahl seinen intellektuellen und vornehmen Anspruch unterstreichen wollte, besten Dank, lieber Papa.
Die dauernden Sticheleien waren kein einvernehmliches Austeilen und Einstecken, wie üblich unter alten Freunden oder Arbeitskollegen. So mag der Nachzügler in der Altherrenrunde von seinem besten Kumpel begrüßt werden: „Schau an, Oma Herbert, hast es noch mal geschafft ohne Rollator. Ich hab‘ Dir einen reserviert, falls Dir der Heimweg zu anstrengend wird.“
Auf gleiche Art revanchiert sich der vermeintlich Denunzierte: „Ich habe Dir die stärkeren Batterien für Deine Penispumpe mitgebracht. Dann hat Deine Frau auch mal wieder Freude.“
Für derlei derbes verbales Scharmützel haben Teenagerinnen kein offenes Ohr. Es mangelt ihnen an Verständnis und Selbstsicherheit, um den verbalen Attacken und Plänkeleien treffsicher mit der richtigen Portion Ironie entgegnen zu können. Womöglich entwickelte sich auf dem Schulhof aus der scheinbaren Provokation ein veritabler Schlagabtausch, welcher mit blutiger Nase, blauen Flecken und immerwährender Feindschaft endet.
Wie immer hatte sich Kunigunde gut vorbereitet. Es wird die letzte Mathematikprüfung des Schuljahres sein. Die Lehrerin, von der weiblichen Schülerschaft wird sie intern ausschließlich Fräulein Rottenmeier genannt, gelegentlich auch nur Fräulein, verlangt stets absolute Pünktlichkeit. Wer um spätestens 8:00Uhr ohne ernsthafte, schriftliche Entschuldigung nicht vor der Schulbank parat sitzt, ausgestattet mit Geodreieck, Lineal und Stiften, um die Aufgaben in Empfang zu nehmen, wird von der Prüfung ausgeschlossen und kassiert ohne Nachsicht eine Sechs. Kunigunde war offensichtlich ihre Lieblingsschülerin. Im Grunde möchte Frau Rottenmeier nachsichtig mit ihr sein, ahnte Kunigunde. Wegen der gebotenen Gleichbehandlung durfte sie ihr keine Ausnahmen gestatten.
© Johann Geitner 2025-03-30