Русская душа – Die russische Seele

Elisabeth Hofer

von Elisabeth Hofer

Story

„Wer vieles wagt, ist bei den Menschen im Recht. Wer auf das meiste spucken kann, der ist ihr Gesetzgeber, und wer am meisten wagt, genießt die meisten Rechte!“

Ich bin 15 und lese Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“, aus dem dieses Zitat stammt. Wir schreiben das Jahr 1968. Die USA führen Krieg in Vietnam, das Massaker von My Lai geschieht im März 1968. Am 11. April 1968 wird ein Attentat auf den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke verübt. Ebenfalls Im April 1968 wird Martin Luther King – „I have a Dream“ – ermordet, am 5. Juni 1968 Robert Kennedy erschossen. Am 21. August 1968 beenden sowjetische Truppen in der Tschechoslowakei gewaltsam den „Prager Frühling“.

Dostojewski erklärt mir die Welt, an der ich leide. Ich treffe erstmals auf etwas, was mir nahe ist, so etwas wie „die russische Seele“: ein Gefühl des tiefen Leidens an der Welt, an der Liebe, an den Menschen, am politischen System. Alles wird infrage gestellt: haben Menschen das Recht, über das Leben anderer zu verfügen, sie zu töten? Ist bedingungslose Liebe, die an Aufopferung grenzt, die wahre Liebe? Wie geht der Mensch mit Schuld um? Gibt es Vergebung für eine böse Tat? Meine Teenager-Melancholie und meine Ratlosigkeit ob der Weltereignisse finden eine Spiegelung in den Menschen, wie sie in den Romanen Dostojewskijs, Tolstojs, Solschenizyns dargestellt werden. Schließlich erfülle ich mir meinen sehnlichsten Wunsch: in Russland, dem Land der Sehnsucht meiner Teenagerjahre, zu leben und zu arbeiten.

Und die russische Seele? Viele Erinnerungen an diese zwei Jahre in Moskau erfüllen mich heute noch mit Wärme und Nostalgie: wie in den Romanen, die ich gelesen hatte, drehten sich die Gespräche am berühmten russischen Küchentisch – in diesen Jahren spielte sich das ganze Leben in der Küche ab – um die tiefen Fragen des Lebens: Was ist Liebe? Was ist Freiheit? Was ist der Tod? Wir tranken Wodka und redeten endlos über die Ängste und Träume der Menschen. Ich erlebte in diesen Jahren Wärme, Zuneigung, Tiefe, Loyalität und Hilfsbereitschaft bis zur Aufopferung, Ehrlichkeit, Unverstelltheit, Erfindungsreichtum gepaart mit einem sich-nie-unterkriegen-Lassen, Eigenschaften, die ich in keiner anderen Gesellschaft in dieser Intensität wiederfand.

Aber die russische Seele ähnelt dem Staatswappen Russlands, dem doppelköpfigen Adler. Es gibt eine zweite Seite, die sich seit Jahrhunderten vor allem politisch manifestiert, die protzig ist, abergläubisch, fremdenfeindlich, fanatisch und gnadenlos. Es ist die Seite, die für eine politische Idee über Leichen geht. Alles unter der Prämisse, die schon Dostojewskijs Raskolnikow zu Ende dachte, dass es „unwertes Leben“ gibt, das vernichtet werden darf, ja vernichtet werden muss.

In diesen beiden so unterschiedlichen Seiten liegt meine Faszination für die „russische Seele“. Ich versuche noch immer, sie zu verstehen.

© Elisabeth Hofer 2020-09-25

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