von Helga M. Stadler
Seit dem 1. Dezember, heuer ein unspektakulärer Mittwoch, habe ich ein neues Morgenritual. Wie ein Kleinkind, voller Vorfreude, eile ich zum Sehnsuchtsort, nehme das Stück Buntkarton in die Hände, wandere mit den Augen hin und her und öffne vorsichtig ein Türchen. Der Adventkalender, eine nette Aufmerksamkeit einer Kinderhilfsorganisation, die wir seit Jahren unterstützen, verbirgt Buchstaben und witzige Tiermotive aus einem entzückenden Kinderbuch. Und hinter jedem Kästchen verbirgt sich eine kleine, noch verborgene Geschichte, die erst gesucht und geboren werden muss.
Jede Familie mit Kindern kennt dieses vorweihnachtliche Phänomen. Unsagbare Aufregung und Vorfreude auf den Heiligen Abend, die es zu bändigen gilt, und mit jedem geöffneten Kästchen mehr wird das Warten aufs Christkind verkürzt.
Wie viele meiner treuen Leserfreunde wissen, weilt meine Tochter seit Monaten in New Orleans, USA, und hatte neben wunderbaren Freundschaften, einzigartigen Erlebnissen und Erfahrungen, auch die Bedrohung durch Hurrikan Ida, wie Hunderttausend andere Betroffene, und einen Diebstahl mit schwerwiegenden Folgen zu managen. Von den rationalen Sorgen und irrationalen Ängsten inklusive unzähliger schlafloser Nächte einer typischen Mutter abgesehen.
Und da heuer eben alles anders ist und das Öffnen des Adventkalenders mir obliegt – ein Paket voll Naschereien fand rechtzeitig den Weg von der Donau an den Mississippi –, führe ich das neue Morgenritual myself durch. Erst wird der Buchstabe eruiert, auf dem Weg zur Küche Richtung Kaffeemaschine, der Inhalt der persönlichen Nachricht überlegt, eine Art Mini-Geschichte, beim Zähneputzen die passenden Worte zurechtgelegt, bis es zurück zum Kalender geht. Schnell ist ein witziges Foto gemacht, und gemeinsam mit der liebevoll aufgenommenen Sprachnachricht geht es ab über den großen Teich, um sieben Stunden später die schmerzlich vermisste Adressatin beim Aufwachen zu überraschen.
Kästchen Nummer 1, ein rotes L, machte es mir leicht. Es folgte eine rührende Liebeserklärung an Tochterkind. Das E von Tag 8 nützte ich, um meine Euphorie über die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage samt der vagen Hoffnung, endlich wieder der Kulturstadt Wien huldigen zu können, auszudrücken. B wie ein Bravo! meines Mutterstolzes. Die beiden S – noch zu bereisende Sehnsuchtsorte wie die Entstehungsgeschichte ihres Namens.
Also hole ich mir die schönsten Erlebnisse unserer Vergangenheit ins Gedächtnis zurück, freue mich auf die kommende, gemeinsame Zeit, versüße mir das Jetzt und das Warten auf ihre Rückkehr. So fließen das Gestern, das Heute und das Morgen ineinander.
Meine Geschichte ist all jenen sehnsüchtig Wartenden gewidmet und deren eisernen Hoffnung, einen schmerzlich vermissten Liebsten, lieben Freund oder nahen Angehörigen, nach einer endlos langen Zeit der Trennung, endlich wieder in die Arme schließen zu können. Denn dann ist Weihnachten, egal wann …
© Helga M. Stadler 2021-12-17