Sag, Mama, was willst eigentlich DU?

SonjaUrbanek

von SonjaUrbanek

Story

Eine Lebensmittelvergiftung katapultierte meine Eltern ins Krankenhaus. Dass sie erst heute, gut eine Woche später, entlassen werden, beweist, dass die Sache nicht unbedenklich war.

Meine Mutter ist oft im Spital. Sie isst zu wenig und wird immer wieder intravenös aufgepäppelt, bis die Ärzte sie halbwegs guten Gewissens wieder entlassen können. Bis zum nächsten Mal.

Helle Aufregung in der Familie auch diesmal. Mein Vater, der im Zimmer neben ihr liegt, lehnt als spontane Reaktion jede Hilfe kategorisch ab. Betrete ich das Krankenzimmer und habe Bücher, Kekse, CDs und Lesebrillen dabei, damit sich die beiden die Langeweile vertreiben können, sagt er zuerst: „Das kannst gleich alles wieder mitnehmen!“, nur um dann doch neugierig zu werden und zumindest ein paar Kekse zu essen.

Die eigentliche Sorge der Familie gilt aber naturgemäß der Mutter. Sie isst kaum noch etwas. Seit Monaten und Jahren bereits.

„Ich habe sie am liebsten bei mir!“, meinte mein Vater, als sich vor etwa zwei Jahren abzeichnete, dass sie ein Pflegefall werden würde.

„Mama, du musst mehr essen!“, sagen unisono mein Bruder, meine Schwester und ich.

„Mich hat meine Mutter immer zum Essen zwingen wollen, und mein Vater hat immer gesagt, dass ich mehr essen soll!“, antwortet stereotyp meine Mutter. Und das reiche ihr jetzt, klingt zwischen den Zeilen mit. Dass die Ereignisse, auf die sie anspielt, sich vor einem guten Dreivierteljahrhundert zugetragen haben, spielt dabei keine Rolle. Tiefe Wunden verheilen nicht.

Umgehend kontaktierte ich zwei Freunde und eine Freundin, auf deren Urteil ich zähle.

Wir müssten vor allem aufpassen, dass sie nicht in ein Pflegeheim eingewiesen würde, schrieb mir der erste Freund. „Gerade in der Pandemie, da viele Pflegeheiminsassen gestorben sind, haben die Heime alles Interesse daran, die verstorbenen Zahler*innen durch neue zu ersetzen“, meinte er.

Überrascht, weil ich in diese Richtung noch gar nicht gedacht hatte, kontaktierte ich Freund zwei. Wir müssten uns sofort um einen Heimplatz kümmern, meinte dieser, zumal sie vor Jahren selbst einmal diesen Wunsch geäußert hatte.

Eine vertraute Freundin, Nummer drei, sprach endlich aus, was ich noch kaum zu denken gewagt hatte: „Vielleicht ist es Zeit für sie, zu gehen?“

Eigentlich ist es typisch, dachte ich mir im Stillen: Wir alle sind im Grunde nur um uns selbst besorgt und darum, wie es uns ohne sie ginge.

Wenn meine Eltern aus dem Spital entlassen sind und ich sie nächstens besuche, frage ich meine Mutter einmal in aller Ruhe:

„Sag, Mama, was willst eigentlich DU?“

Ob ihre Antwort klar sein wird?

Ja, sicher, sie ist dement und hat sich in ihre eigene Welt zurückgezogen; aber das ist kein Grund, ihren Willen nicht ernst zu nehmen. Tief im Inneren weiß sie, was sie will. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das sagten schon klügere Menschen als ich.

So weit klingt ja alles ganz logisch. Was aber mache ich dann mit der Antwort, die sie mir vielleicht auf diese Frage geben wird?

© SonjaUrbanek 2020-08-08

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