Sagenwelten

Daniela Neuwirth

von Daniela Neuwirth

Story

Seit mehreren Tagen steckt Lilly immer wieder die beiden Sagenbücher in eine Tüte, stellt diese schon mal in die Küche, um sie dann beim Weggehen dem Besitzer an die Tür zu hängen und sich mit Pralinen fürs Borgen zu bedanken, doch jedes Mal zieht sie eines der Bücher wieder aus der Tasche und sitzt am sonnigen Küchenfenster, nascht die Schokolade selber und vertieft sich in Überlieferungen im Sylter Sagenbuch.

Erstens, weil sie alte Bücher mit deren Papierhaptik und -geruch mag, zweitens, weil die Pralinen zu lecker zum Verschenken sind und drittens, weil es leider gerade nicht viel anderes zu tun gibt. „Wann ist sonst ist Zeit zum Lesen, wenn nicht jetzt?“ Sie sucht sich immer eine der kürzeren Geschichten raus, damit sie ihre Ungeduld nicht überfordert, aber denkt natürlich gern an die Zeit, wo sie ganze Tage am Seeufer oder Strand liegen und lesen konnte. „Wo ist die hin – die Zeit?“

In der ´Archsumburg´ geht es im Jahre 1338 los, wo durch anhaltendes Regenwetter große Hungersnot auf Sylt entstand und weiter im 1350 mit dem Schwarzen Tod, der unter der Bevölkerung wütete, weshalb das Kirchspiel in Morsum auf elf Personen geschrumpft und das Dorf Archsum völlig ausgestorben sein soll, in Keitum sang nur noch eine Frau in der Kirche, in Westerland oder Eidum gab es noch drei Familien, nur Rantum blieb verschont von der Pest.

Die traurige Zeit benutzte 1359 der dänische König, um einen General zu schicken, der die Friesen bändigen sollte und baute aus den Trümmern in Archsum eine Burg, befestigte das schlossähnliche Gebäude mit Wall und Graben. Vom Süden und Südwesten zogen nach der Flut von 1362 viele Seefahrer aus Gatum und Rantum vor die verhasste Zwingburg, wo die freiheitsliebenden Sylter den dänischen Edelmann vertrieben und um die Reste des Burgwalls das jetztige Archsum aufbauten.

Den großen Erdwall ließen die Archsumer noch lange stehen, als Zeichen für Volksfreiheit und eine Prophezeiung sagt, dort soll einst die Fahne der Freiheit wieder aufgepflanzt werden – 1848 hieß es, man habe sie dort flattern sehen. Am liebsten würde sie ihm das Buch abkaufen. Jedes Mal hält sie wieder eine Erzählung gefangen, diese zum Beispiel mit den Ortsnamen, die sich inzwischen geändert haben oder ganz verschwunden sind.

Obwohl man nur bis zur Arbeit oder Einkauf fahren soll, drückt sie nach der Ortsausfahrt Tinnum nochmal auf das Gaspedal, um über die lange Gerade nach Archsum zu kommen – die Straße ist ja so unbefahren wie noch nie. Die zotteligen Rinder auf der Weide heben sogar ihre schweren Köpfe, weil es inzwischen so exotisch ist, das sich hier ein Fahrzeug blicken lässt.

Die Neugier lässt ihr keine Ruhe und sie fährt langsam durch die Ortsmitte, ob denn von einem Wall der Archsumburg noch eine Spur zu finden ist. Leider keine Erhöhung, keine Fahne der Freiheit, dafür viele Friesenhäuser mit Reetdach und fast jedes hat im Garten oder am Dach eine Fahne, die sich tanzend im Wind farbenfroh Aufmerksamkeit verschafft. „Freiheit für alle.“

© Daniela Neuwirth 2020-05-05

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