von Friedbrand
Wie dicke Salzkrusten leuchtet der Raureif an den Birkenästen in der Sonne. Unberührte Schneedecke auf den Wiesen, tief verschneite, schroffe Bergriesen und schneegesäumte, dunkle Fichtenspitzen. Seit uralten Zeiten ist dies das salzige Herz der Alpen, die Salzkammer – oder eine der Salzkammern – Europas. Tiefe Stollen trieben die Menschen in die Berge hinein und holten das kostbare Handelsgut heraus, das auch das „weiße Gold“ genannt wurde. Tief im Gestein eingemauert lag und liegt es, diese lebensnotwendige Würze der Speisen, ja Würze des Lebens.
Heute muss die EU es bereits per Gesetz reduzieren – zu viel Würze, die den Blutdruck steigen lässt, aber die Verkaufszahlen der Lebensmittel ebenso.
Doch auch zu wenig Salzkonsum macht krank: Das Gehirn kann schwellen und den Marathonläufer kollabieren lassen, den alten Menschen, der keinen Appetit mehr hat, verwirren. Paracelsus, der berühmte Arzt des Mittelalters, der in dieser Gegend wirkte, prägte den Satz: „Nichts ist ohn‘ Gift, allein die Menge machts!“ – auf das uralte Thema vom Maß halten verweist uns das Salz, wie wohl nichts anderes auf der Welt.
Ein überholendes Auto spritzt mir Matsch von der Straße auf die Windschutzscheibe. Ich lass mein Auto tränen und wischen, doch am Rand der Scheibenwischer werden sich Salzreste bilden. Heute wird das weiße Gold in Unmengen auf die Straßen gestreut, lebensrettend und Bewegung ermöglichend. Aber dennoch in Unmengen.
Kaum einer kennt die Zeiten, in denen es damals abgelagert wurde. Vor hunderten Millionen Jahren, am Ende des Erdaltertums, trockneten die Meere aus, weil das Klima sich langsam erwärmte und fast alle Tierarten starben aus. Viel langsamer als heute. Welch eine Warnung uns da auf die Windschutzscheiben spritzt! „Ihr seid das Salz der Erde“, sprach Jesus einst zu seinen Jüngern. Welch eine Drohung aus heutiger Sicht, wo es zum Teil in unserer Verantwortung liegt, ob wir zum „Salz werden“.
Wer wird das Salz unserer Meere einst auf seine Straßen streuen können?
© Friedbrand 2022-01-29