Sami

Jenny von_Reiche

von Jenny von_Reiche

Story

Sami nennt sie Martina, denn das ist ihr Name. Und Sami hat von seinem Vater gelernt, dass es wichtig ist, die Leute beim Namen zu nennen, denn das mögen sie. Für Samis Eltern ist es sehr wichtig, gemocht zu werden, ja sogar überlebenswichtig. Martina mag Sami und gibt ihm gerade von dem frischen Brokkoli auf den Teller. Er sagt „Martina, du bist mir ein Goldengel!“ und Martina sagt liebevoll „Geh weiter“ und dann geht er auch weiter. Sami will gerade noch einmal in ihre Richtung zwinkern, als Johann dringlich in ihn hineinrennt, mit einem Schnitzel, das derart ausgewachsen ist, dass darunter gar kein Tablett mehr zu erkennen ist. Johann sagt eilig: „Du Sami, hast Du ne Minute? Vielleicht irgendwo, äh, mit etwas mehr Privatsphäre?“ Sami hat eine Minute. Sie setzen sich an einen Kindertisch, ein Überbleibsel aus der Zeit, als das egale Unternehmen Kinderbetreuung angeboten hatte, die wegen ausbleibender Kinder schließlich eingestellt wurde. Johann kaut auf seinem zähen Fleisch und sagt: „Ja, ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll, am besten wohl einfach raus damit, also, die Frau da gestern. Dass die uns, äh, also die …“ Sami vollendet Johanns Satz: „Die uns Schwuchtel genannt hat?“ Johann nickt. „Ich frag’ mich halt“, stottert Johann weiter, „ob ich vielleicht … ob ich …“ Wieder hilft Sami ihm weiter: „Schwul bin?“ Johann nickt nur und schaut betreten auf sein Schnitzel-Tablett. „Ok“, sagt Sami jetzt bestimmt, „pass auf. Du hast doch eine Freundin, oder?“ Johann nickt wieder. „Stell Dir jetzt mal ihre Vagina vor.“ Johann schaut pikiert, kommt der Aufforderung aber nach. „Stell es Dir wirklich vor, ja?“ Johann nickt wiederholt, mit geschlossenen Augen. Sami fragt: „Findest Du das ekelig?“ Johann ruft empört: „Nein!“ Sami grinst: „Ok, jetzt stell Dir ihr Vagina nochmal vor und sagen wir mal, sie ist feucht. Findest Du das gut?“ Johann lächelt: „Sehr.“ Sami klatscht in die Hände: „Also schwul bist Du schon mal nicht. Sonst noch Fragen?“ Johann ist sichtlich erleichtert: „Ich dachte echt, ach keine Ahnung.“ Sami schaut sich nachdenklich in der Kantine um: „Johann, wir sind ja schon auch Freunde mittlerweile, deswegen sag’ ich dir jetzt was. Damit geh’ ich einfach nicht so hausieren, ok?“ Johann schaut ihn aufmerksam an. „Ich bin schwul. Immer schon. Wissen Meine Freunde alle aber meine Eltern nicht. Und diese bescheuerte Tante von gestern bestimmt auch nicht.“ Johann ist überrascht: „Ach krass, hätte ich jetzt gar nicht so gedacht.“ Sami schaut aus dem Fenster und redet weiter: „Nee, ja, ist ja auch Absicht.“ Sami zögert. „Weißt du, ich wurde in einem ziemlich beschissenen Zeltlager geboren. So ohne Lagerfeuer und ohne Pässe. Lauter Staatenlose ohne Auftrag. Meine Eltern haben sich krass abgerackert, damit ich es zu irgendwas bringe. Als einziger Sohn. Haben mich aus der schiefen Bahn sozusagen heraus kultiviert, bevor ich überhaupt abdriften konnte. Mein Dad hat Bier an Besoffene verkauft, damit ich studieren konnte, verstehst du? Ich möchte sie einfach nicht enttäuschen.“ Alles, was Johann als Antwort dazu einfällt, ist: „Hm klar. Und ey Respekt.“ und damit ist der Deep Talk beendet. Dann erzählt Sami ihm von dem Telefonat mit seinem Vater und was bei dem heute Nacht los war. Mitten in der Geschichte steht Johann auf und sagt: „Oh Gott!“, und rennt zur Tür hinaus. Sami ruft ihm nach: „Das Schnitzel?“, und Johann ruft zurück: „Nee! Die Niere!“. Dann ist er auch schon verschwunden. Sami bleibt alleine am Kindertisch zurück und fühlt er sich auf einmal ziemlich klein, einsam und alleine. 

© Jenny von_Reiche 2024-03-10

Genres
Romane & Erzählungen, Humor& Satire