von Franz Brunner
Ich hatte es dem väterlichen Ehrgeiz zu verdanken, dass ich sie kennenlernte. Er wollte, dass ich bereits vor dem Eintritt in die Volksschule lesen konnte. Dann lernte ich schnell, so schnell, dass ich sehr früh zum Dauergast in der kleinen Bibliothek der hiesigen Pfarre mutierte. Ich hatte die Mitgliedsnummer 51 und war wohl der jüngste mit einer 2-stelligen Nummer, was mich mit kindlichem Stolz erfüllte. In der überschaubaren Ecke mit den Kinderbüchern sah ich sie zum ersten Mal und es hat sofort gefunkt – ich war vom ersten Moment an chancenlos, sie war einfach unwiderstehlich. Frech, unkonventionell, unbeugsam, liebenswert und mit jeder Faser ihres Herzens leidenschaftlich. Nein, ich meine jetzt nicht die gute Fee, die seit fast einem halben Jahrhundert mit schier unglaublichem Durchhaltevermögen an meiner Seite ist, wobei es da frappierende Ähnlichkeiten gibt. Die kecke Göre, von der ich hier erzähle, kenne ich bereits ein paar Jahre länger, tatsächlich schon seit meinem Ausstieg aus der Sandkiste. Ich wusste damals nichts von ihrer Krankheit, sonst wäre neben der bewundernden Zuneigung auch noch Mitleid dazugekommen. Leider, ihre Krankheit ist nicht heilbar, hatte aber vielleicht gerade deswegen positive Auswirkungen auf unsere Beziehung. Was ist denn wirklich schlimm daran, wenn ein Mädchen massiv und dauerhaft die Realität verweigert, in höchsten Maße gegen jegliche Beratung resistent ist und ihr Ding unbeirrt durchzieht. PLS ist im Grunde gar nicht so schlimm, wie es sich aufs erste anhört, zumindest für den Betroffenen selbst. Die Umwelt, die Mitmenschen, die haben damit schon deutlich mehr zu kämpfen, wobei kämpfen manchmal durchaus wörtlich zu nehmen ist. Und trotz ihrer kindlichen Unbeschwertheit und trotz ihres seltsamen Auftretens sagte sie äußert kluge Sachen, ich hielt sie seinerzeit sogar für weise, ohne mir der Bedeutung dieses Wortes bewusst zu sein. Weisheit, davon bin auch heute noch meilenweit entfernt, aber sie war es für mich. So sagte sie einmal bei einer für sie neuen Herausforderung: „Ich habe das zwar noch nie versucht, aber ich weiß ganz genau, dass ich es schaffe.“ Bis heute trage ich diesen treibenden Gedanken in mir – und es funktioniert tatsächlich. Meistens! Da wäre noch ihr außerirdisches Outfit anzuführen: meist über die Knie reichende, verschiedenfarbige Ringelwollstrümpfe mit Strapsen, darüber ein kurzes Kleidchen in knalliger, völlig unpassender Farbe. In Summe in höchstem Maße unsexy, allerdings war zu jener Zeit, also kurz nach der Sandkasten-Epoche, Sex ohnehin kein dringliches Thema. Und dass ihre Frisur, die sie aus den knallroten Haaren formte, jemanden anzutörnen vermochte, war ebenfalls auszuschließen. Zugegeben, es hätte mich durchaus gereizt, in ihre kunterbunte Villa einzuziehen. Und mit ihren Haustieren, einem Äffchen und einem Pferd, hätte ich mich mit Sicherheit total gut verstanden.
Ich hab‘ sie zwischendurch aus den Augen verloren und dann doch den für mich vorgesehenen Lebensmenschen geheiratet, habe Pippi aber nie vergessen. Ja, Pipilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf war meine erste Liebe. Und letzte Woche wurde diese Göre 80 Jahre alt. Stand ja in allen Zeitungen. Dass sie ein paar Jahre älter war als ich, ist mir seinerzeit nicht aufgefallen, heute bin ich aber – bei allem Respekt, liebe Pippi – doch froh, dass meine aktuelle Gattin jünger ist. Trotzdem, kleine freche Schwedin, danke für die vielen aufregenden gemeinsamen Stunden und deine weisen Ratschläge.
© Franz Brunner 2025-05-25