Sankt Hubertus

Gabriela Rodler

von Gabriela Rodler

Story

In den letzten Tagen stolpere ich immer wieder über Berichte über weiße Rehe in unseren Wäldern. Gleichzeitig kommt mir die Sage in den Sinn, wer ein solches Tier tötet, stirbt selbst innerhalb eines Jahres. Und dann ist da noch ein weißer Hirsch der in meinem Kopf langsam Gestalt annimmt. Bis er endlich in seiner ganzen Pracht vor meinem inneren Auge erscheint. Mühsam hat er sich seit meine Kindheit durch viele Jahrzehnte gekämpft.

Mitte der 1950 Jahre, ich war vier oder fünf Jahre alt, leitete meine Mutter über den Sommer ein Urlaubsheim, dass einer Firma gehörte. Die Arbeiter und Angestellten konnten dort ihren Urlaub verbringen. Rund um das Haus erstreckte sich ein riesiges Grundstück, zu dem auch ein kleiner Wald gehörte. Es fanden sich immer wieder Kinder von Gästen, mit denen ich spielen und herumlaufen konnte. Allerdings verbot mir Mutter das Grundstück zu verlassen. Dazu gab es keinen Grund, da ja genug Platz zum Spielen und herum toben vorhanden war.

Eines Tages, wir waren eine Gruppe von sechs oder sieben Kindern spielten wir in dem kleinen Wald. Der endete an einer Schotterstraße, die zu einem Bauernhof führte. Ein morscher Holzzaun bildete die Grundstücksgrenze. Auf der Wiese gegenüber stand eine kleine Kapelle, mit der Seitenwand zum Wald, wir konnten nicht sehen was im Innenraum war. Eines der älteren Kinder machte den Vorschlag, sich dieses kleine Bauwerk anzusehen. Wir kletterten durch die wackeligen Bretter des Zauns. Mein schlechtes Gewissen meldete sich kurz, sollte ich doch das Grundstück nicht verlassen. Aber die Neugierde war doch zu groß. Mit klopfendem Herzen lief ich über die Straße und stand vor dem Eingang der Kapelle. Dieser war mit hohen Eisenstäben fest verschlossen. Durch die Sprossen sah ich im Inneren auf der Rückwand einem mächtigen weißen Hirsch. Auf seinem hoch erhobenen Kopf thronte ein prächtiges Geweih. Zwischen den beiden Geweihstangen glänzte ein Kreuz, umgeben von einem funkelnden Strahlenkranz. Fasziniert sah ich auf das Bild. Ich wollte es noch näher betrachten. Seitlich zwängte ich mich durch die Gitterstäbe, der Abstand war eng und ich spürte das kalte Eisen an meinem Bauch und Rücken. Jetzt konnte ich das Fabelwesen ganz aus der Nähe betrachten. Über seinem Kopf war ein Spruch zu Ehren von Sankt Hubertus gemalt. Er strahlte eine majestätische Würde aus. Ein oder zwei Kinder schafften es auch in den Innenraum der Kapelle, die anderen waren zu groß, um sich durch die Stäbe zu zwängen. Plötzlich überkam mich Angst, nicht mehr aus der Kapelle zu kommen. Schnell schob ich mich durch den engen Zwischenraum der eisernen Absperrung, lief über die Straße, durch den morschen Zaun in den Wald und atmete auf. Geschafft, wieder in Sicherheit.

In den nächsten Jahren besuchte ich noch öfter den weißen Hirschen. Doch eines Tages war ich zu groß, um durch die Stäbe zu schlüpfen.

© Gabriela Rodler 2022-11-01

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