Saving Me (part 2)

Crawling Crow

von Crawling Crow

Story

Aber alle meine Befürchtungen erwiesen sich als vollkommen falsch, als der Vater mit Tränen in den Augen aufstand und mich umarmte. Das überraschte mich dann doch, mit so etwas hatte ich garantiert nicht gerechnet. Ich blieb wie erstarrt und versuchte mich nicht zu bewegen, denn ich fürchtete, dass er mich ansonsten von sich stoßen könnte. Aber als er mich freigab, schimmerten bloß Sorgentränen in seinen haselnussbraunen Augen, und er bat mich, mich zu ihnen zu setzen. Also setzten wir uns wieder, und er und seine Frau fragten mich regelrecht aus: Wo ich herkam, wie alt ich wäre, und ob ich Sebastian – so hieß ihr Sohn – bereits vor diesem Desaster gekannt hätte. Auch ich erfuhr vieles. Dass der kleine Junge Stefan hieß und am Liebsten Fußball mit Sebastian spielte, aber nur, wenn keiner in der Nähe war, der zuschauen konnte. Seine Mutter, Julia, backte gern Kuchen, und Schokoladenkuchen hatte Sebastian am Liebsten, während alle anderen ihren selbstgemachten Nusskuchen bevorzugten. Und der Vater, Joseph, hatte Sebastians erstes Bett gebaut – ein hölzernes Stockbett, das kaum einen Meter über dem Boden schwebte. Als dann der Arzt mit der schlechtesten Nachricht kam, die es überhaupt geben konnte, saß ich immer noch bei ihnen und lauschte ihren Geschichten über ihre gemeinsamen Erlebnisse mit dem Jungen, der meinetwegen in diesem Zimmer lag. Die Worte, die der Chefarzt überbrachte, ließ diese jedoch noch mehr wie Fantasien klingen, die sie sich ausgedacht hatten, um eine Verbindung zu ihrem Sohn aufbauen zu können, als sie es sowieso schon taten. Es war, als würde der Mann mit dem Arztkittel die Familie aus einem friedlichen, dennoch beängstigenden Traum reißen, nur damit sich dieser in einen regelrechten Horror verwandelte. Die Tränen flossen zuerst bei der Mutter. Sie schluchzte regelrecht und wollte sich nicht mehr beruhigen, auch nicht, als sie Beruhigungstabletten schluckte. Der Vater saß da wie erstarrt und wollte sofort zu seinem ältesten Kind, als er die Nachricht verdaut hatte. Er ging sogar so weit, dem Arzt zu drohen, als dieser den Wunsch verwehrte. Und Stefan, der kleine Bruder, sah aus, als wüsste er nicht, was er als erstes machen sollte: Weinen oder kotzen.

Und wie ging es mir? Ich wollte am liebsten sofort von dort verschwinden und nie wieder kommen. Ich wollte diese Familie mit ihrer Trauer in Ruhe lassen, tatsächlich hatte ich das Gefühl, als hätte ich keinerlei Recht den Jungen, der gerade sein Leben verloren hatte, zu beweinen. Ich fühlte mich schmutzig, so als klebe sein Blut an meinen Händen. Und in gewisser Weise tat es das ja auch.

Aber ich blieb bei ihnen, auch als sie die Familie wegbrachten, blieb ich bei ihnen, bis sie in das Taxi stiegen und wegfuhren. Ich konnte sonst nichts anderes tun, denn ansonsten wäre ich vermutlich zusammengebrochen.

© Crawling Crow 2021-10-05

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