Schafsgewitter

Um 5.36 Uhr schlug ein Blitz ein.

Er drang in eine Quercus robur und spaltete sie bis zu den Wurzeln in drei Teile, nahezu so säuberlich wie ein Messer durch Butter.

Der explosionsartige Donner riss die Dörfler aus dem Schlaf. Er grollte an, bis sich die ersten angezogen hatten. Etwa vierzig Leute, allesamt alteingesessene Männer und Frauen – da die Jugend sich lieber noch einmal im Bett herumdrehte – eilten nach draußen. Der Schäfer, der seinen Stall weiter unten im Dorf stehen hatte, brüllte mit seiner überdrehenden Stimme herum. Wie die Schafe seiner Herde trotteten die Leute zu ihm und zogen in einer eigenartigen Prozession zum Einschlagsbaum auf dem Hang Richtung Wald.

Sie zogen einen lockeren Kreis um das Objekt, scharrten mit den Füßen in der Erde, murmelten, tuschelten, klopften an die entblößten Innereien des Baumes, gaben sich fachkundig über Gewitter, Einschläge und Wolkenformationen und verschränkten in der morgendlichen Kühle die Arme vor der Brust.

Ein weiteres Schaf kam den Hügel heran gestolpert. Es war der Besitzer des Fleckchen Landes und der darauf befindlichen Obstbäume sowie der Eiche.

Er nahm seine Baskenmütze vom Kopf, bekreuzigte sich blass und rief außer Atem, dass sich alle von dem Baum fernhalten sollten. Die Gefahr von herabfallenden Ästen wäre nicht zu unterschätzen.

Das Fußvolk wog die Köpfe hin und her und lächelte ihm mild zu.

„Aber, aber. Wir sind doch vorsichtig. So ein kleiner Ast tut ja auch nicht weh.“, erklärte der Bürgermeister väterlich.

„Es hat gar nicht geregnet! Es muss regnen in einem Gewitter“, krächzte die füllige Sekretärin mit einem Blick auf die vorbeiziehenden Wolken.

„Unsere schöne Eiche!“, rief der Bäcker mit einem Splitterstück in der Hand.

Der Landbesitzer war noch blasser geworden.

„Weg von dem Baum, allesamt! Das Gewitter ist noch nicht vorbei!“

Keiner rückte ab. Jeder wollte den besten Erzählstoff aus vorderster Front aufsaugen und das Wissen von Großtante oder Urgroßmutter vor anderen Großtanten und Urgroßmüttern verteidigen.

„Der Blitz schlägt nie zweimal in den gleichen Baum“, sagte mit nasaler Stimme der Maurermeister.

„In denselben“, korrigierte der Pfarrer.

Das Gewitter jedoch missachtete die Regeln der klugen Menschen unter sich. Es schlug mit seinem Blitz erneut in den Baum.

Kurz darauf begann sanfter Regen zu fallen.