Schattenkind

Anika Nitsch

von Anika Nitsch

Story

Was ist ein Schattenkind? Weißt du es? Vermutlich nicht, denn jemand steht vor ihm, im Licht der Aufmerksamkeit.

Ich war drei Jahre alt, als mein Bruder an Leukämie erkrankte und ich zum Schattenkind wurde. Auf einen Schlag änderte sich das Leben meiner Familie, wir mussten uns an eine Situation anpassen, die mit Angst gefüllt war. Angst um meinen kleinen Bruder, der in seinen ersten Lebensjahren so viel verkraften musste, so viel kämpfen musste. Für ihn ging es damals, vor mehr als zwanzig Jahren, ums reine Überleben.

Während mein Vater arbeiten ging, blieb meine Mutter Tag und Nacht bei meinem Bruder, kümmerte sich um ihn, pflegte seine Wunden.

Und ich?

Ich konnte nicht dorthin, wo meine Mutter hinging. Ich verbrachte die Zeit stattdessen bei Freunden oder meinen Großeltern. Natürlich habe ich meine Eltern immer wieder gesehen, aber stell dir vor, du wärst drei Jahre alt und plötzlich ändert sich alles. Man spürt die Angst der anderen, aber wie soll man das als Kind verstehen?

Also wurde ich zum Schattenkind.

Ich verweilte in den Schatten, still und leise.

Bis mich die Schatten nicht mehr nur umgaben, sondern sich in meine Seele einnisteten und darauf warteten, dass ich älter wurde, um mich erneut zu umschließen. Obwohl ich mich heute an nichts mehr erinnern kann, was damals passiert ist, hat mein Unterbewusstsein alles aufbewahrt. All die Schatten in meiner Seele habe ich als Kind aufgenommen und so lange in mir gehalten, bis sie nicht mehr dort bleiben wollten.

Ein Schattenkind rückt nach hinten, um jemand anderem den Platz im Licht einzuräumen, den derjenige gerade braucht. Ich habe meinem Bruder diesen Platz unbewusst gegeben. Würde ich heute in dieselbe Situation kommen, würde ich ihm wieder das Licht der Aufmerksamkeit geben, obwohl ich nun weiß, was das alles mit mir gemacht hat.

Dennoch bleiben die Schatten in mir zurück. Und mittlerweile bin ich es, die ums Überleben kämpft.

© Anika Nitsch 2022-08-19

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