Scherbenhaufen

CamilleChagon

von CamilleChagon

Story

Unser Gärtner Yasha kommt während der Frühlings-, Sommer- und Herbstmonate zu uns in den Garten. Er befindet sich in einem Wiener Außenbezirksstadtteil, der sich Bruckhaufen nennt, und ist nur ein Ausschnitt eines kleinen Paradieses. Die Farben sind gedeckt gehalten: Weiß, Blau und ein zartes Violett bringen Farbkleckse in das dominierende Grün. Wer uns im Garten besucht, der macht einen Ausflug nach Transdanubien, eine Reise in Kulturen, die hier heimisch wurden. An der Rückseite des Gartens schließt sich die orientalische Geschichte an – das Islamische Zentrum Wiens. Freitags ruft der Muezzin zum Gebet. Im Garten selbst breitet sich der Süden aus. Zwischen üppigem Lavendel wächst in Töpfen, die im Winter in geschützte Innenräume wandern, der zart duftende Jasmin. Die Blüten der Orangenbäume, die aus den Kernen der Großeltern meines Mannes aus Isfahan gezogen wurden, legen sich, intensiv in ihrem Aroma, bei leichtem Wind über die Lorbeersträucher. Im August gesellen sich weiße Bauernhortensien dazu, die nach den Zierzwiebeln im Frühjahr, das Gärtnerherz erfreuen. Der alte Mandelbaum trägt üppig seine harten Früchte, obgleich sein Stamm mit Pilz bedeckt ist. Auch der Marillenbaum trotzt dem Alter.

Nach der Donauregulierung wurde der Bruckhaufner Stadtteil zu einer Insel zwischen dem neuen Donau-Hauptstrom und der Alten Donau. Und Haufen war zur Zeit vor der Wiener Donauregulierung der Name für Schotter- und Sandinseln. Die Kugelfanggasse hat ihren Namen aus dem 19. Jahrhundert, als ab 1871 auf der Insel die Militärschießstätte Kagran bestand.

Als kleines Kind saß mein Mann viele Stunden in den Zweigen des Kirschbaumes, den es heute nicht mehr gibt. An dessen Stelle stehen nun Pfingstrosen und Glyzinien ranken sich um die Holzgarageneinfahrt. Sie führen uns, nach einem Zwischenstopp in der Provence, in einen englischen Garten.

Die Hochstammrosen um das Gartenhaus tun das ihrige hinzu. Spät, wenn der Herbst sich mit Morgentau und Abendkühle ankündigt, streckt das Eisenkraut noch trotzig seine violetten Köpfchen zwischen den verblühenden Sommerblumen empor. Dann heißt es bald Abschied nehmen vom Sommer.

Yasha kommt stets mit seinem Picknickkorb, in dem er selbstgemachten Melissensaft im Glas mitbringt. Auf unserem morgendlichen Streifzug inspizieren wir, welches Unkraut entfernt gehört, und wo sich Spuren einer Krankheit zeigen. Wenn da und dort ein kleines Ton- oder Glasstück aus der Erde lugt, sehen wir einander wissend an: Die Geschichte holt den Garten ein.

Yasha beginnt seine Arbeit. Jeder Schnitt scheint ihn zu schmerzen. Aus Totem wird Lebendiges, aus Lebendigem wird Totes. Brutal scheint uns der Lauf der Dinge und unser aller Vergänglichkeit. Yasha meint, es ist nie zu spät, dem Leben noch eine Chance zu geben. Es besteht Hoffnung, auch müde, beinahe verwelkte Blumen können den nächsten Winter überleben. Auf einem Scherbenhaufen, der in 1960ern noch als Mülldeponie diente.

© CamilleChagon 2021-03-10

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