von dieschreiberei
Als ich um die Ecke biege, sehe ich dich. Das Rot springt mir ins Gesicht. Es scheint als existiere nichts anderes mehr. Das Gerede um mich herum verstummt, die Konturen der anderen Passanten verschwimmen vor meinen Augen. Doch das Rot, das bleibt. Klar. Hebt sich ab.
„Kann ich Ihnen helfen, soll ich die Rettung verständigen?“, sprudeln die Worte aus meinem Mund. „Hab ich schon gemacht“, antwortest du. Andere Menschen laufen um uns herum, zwischen uns hindurch. Drehen sich um. Starren dich an. Ihre Münder formen ein „Oh“. Manchmal hörbar, manchmal stumm. Manchmal hinter vorgehaltener Hand. Ihre Augen sprechen Bände. Ihre Augen sagen: „Oh, der arme Mann. Das muss ja fürchterlich wehtun“. Aber keiner fragt dich. Wendet nach ein paar Sekunden des Starrens den Blick ab. Setzt sofort seine Scheuklappen auf. Nach dem Motto – aus den Augen, aus dem Sinn. In meinem Kopf setzt sich ein Kino in Gang. Ich stelle mir die Menschen vor. Alle haben sie Scheuklappen auf. Laufen durch die Straßen, nehmen wahr ohne wahrzunehmen. Helfen nicht, obwohl es ihre Aufgabe wäre. In der Hoffnung, jemand anderer nimmt es ihnen diese Bürde ab. Mein Kopfkino wird zum Trauerspiel.
Als nach zehn Minuten noch immer keine Rettung vor Ort ist, rufe ich an. „Hier steht ein Mann, mit einer Platzwunde unter dem linken Auge“, erkläre ich am Telefon. Man gibt mir die Auskunft, dass noch niemand angerufen habe. In den nächsten Minuten wird jemand kommen.
Die Leute laufen weiterhin um uns herum. Durch uns hindurch. Starren dich weiterhin mit offenen MĂĽndern an. Um dann zurĂĽck in ihre Komfortzonen zu schlĂĽpfen.
Kurz bevor die Rettungssanitäter kommen, fällst du um. Ganz knapp nur kannst du dich mit deinem linken Arm abstützen. Ganz knapp einer zweiten Platzwunde entgehen. Während du am Boden sitzt, kommt eine Frau hinzu. Die Erste, die ihre Scheuklappen abnimmt. Abnimmt, um an der realen Welt teilzunehmen. Um teilzunehmen an den negativen Seiten des Lebens, die gemeinsam wieder zu positiven werden können. Wenn man sich gegenseitig hilft. Helfen würde.
Eine weitere Frau kommt hinzu. „Och, der. Der fährt ja sowieso nicht mit, mit der Rettung. Den kennen wir hier ja schon“. In mir brodelt es. „Das muss dennoch verarztet werden“, kontert die Frau neben mir. Ich werfe ihr einen dankbaren Blick zu. Dann treffen die Rettungssanitäter ein. Kümmern sich um dich, wie du da am Boden sitzt. Ich verabschiede mich, weiß dich in guten Händen. Und gleichzeitig stelle ich mir die Frage: „Wie zum Teufel können wir es schaffen, wieder scheuklappenlos durch die Welt zu gehen?“
© dieschreiberei 2021-11-10