von CharlyAngelika
„Fahr schneller, Jo, eine Schnecke überholt uns!“ Rotzfrech forderte unser erstgeborener Sohn den Schulbusschofför auf, einen Zahn zuzulegen. Der ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Seine Fahrten absolvierte er bis zu seiner Pensionierung unfallfrei. Gott sei Dank! Denn was auf dieser Straße alles möglich ist, war und wäre, davon kann ich ein Lied singen.
Bei starkem Regen – Steinschlag. Bei Schnellbremsung auf nassem Laub – Rutschpartie, Knieschlottern. Nach dem ersten Schneefall der Saison – Unsicherheit pur. Als erste nach dem Schneepflug – Spiegelglätte, bei starkem Nebel – stehenbleiben, aussteigen, nachschauen, wo der Straßenrand ist. Schneemassen – Ketten anlegen, wenn es gar nicht anders geht. Gefrierender Regen – lieber irgendwo aussitzen. Alles erlebt.
Rund 40 Jahre benütze ich diese 6 km lange Straße jetzt schon praktisch täglich. Zeiten gab´s, da benützte ich sie täglich mehrmals: Arbeit, Schule, Freizeitprogramm, Termine, Ausgehen. Nichts habe ich mir dabei gedacht! Die Straße war halt in Kauf zu nehmen, wenn man auf einem Bergbauernhof leben und möglichst wenig versäumen wollte.
Als der letzte Straßenabschnitt eingeweiht wurde, genoss ich das Fest als jugendliche Chorsängerin. Später fotografierte und vermaß ich Frostschäden und brachte die Daten provokant zum Baubezirksamt.
Immer wieder wurden Stützmauern gebaut, Schäden ausgebessert, neu asphaltiert, Leitungen verlegt, Windwürfe beseitigt. Als ich mein neues Auto überstellte, wurden gerade mit schwerem Gerät Steinschlichtungen zur Fahrbahnsicherung durchgeführt. Freundlich wurde ich durch die Engstelle gewunken. Augen zu und durch, dachte ich und ja nirgends anstreifen! Gelungen!
Ich halte mich für eine sichere Autofahrerin, hatte außer einem kleinen Crash in jungen Jahren keinen Unfall. Sicher, es waren Glück dabei und etliche Schutzengel im Einsatz. Heute genieße ich die Fahrten im E-Auto, früher bekam ich schon mal zu hören: „Heute fräst sie wieder den Berg hinunter“. Dabei besitze ich eine kleine Galerie an Wildtieren, die hinter anderen Fahrern liegengeblieben waren, die ich einsammelte und präparieren ließ.
Auf dieser Straße wurden die Toten zum Friedhof gebracht – mehrmals ging ich im Trauerzug hinter einem Pferdegespann her. Die jährlichen Bittgänge und die Fußmärsche zu den Fastenmessen ins Wallfahrtskirchlein gibt´s noch heute.
Schicksalsstraße? Für alle Bergler ist diese Aufzählung etwas, was jeder in ähnlicher Form herunterbeten könnte. Dass das Auto meines Mannes mitten auf der Straße aus heiterem Himmel total ausbrannte, und eines unserer Kinder beim Spielen auf die Straße rollte und ein Schädelhirntrauma erlitt, gehört wohl zu den besonderen Ereignissen. Aber erst als unser erstgeborener Sohn, fünfzehnjährig, in der Nacht, mit einer ausgeliehenen Kraxe …. Da wurde diese Straße unsere Schicksalsstraße. Für sein ganzes weiteres Leben und für das weitere Leben seiner Familie auch.
© CharlyAngelika 2020-08-10