Ich staunte nicht schlecht, wie meine Großmutter Vers um Vers zum Besten gab und keinerlei Probleme mit diesem langen Text hatte. Sie schnurrte Zeile um Zeile herunter und achtete ganz besonders auf die Betonung. Sie freute sich wie ein Christkindl, dass sie mir helfen konnte. Ich bewunderte sie, dass sie dieses Gedicht noch heute aufsagen konnte. Nach einer Weile nickte sie mir zu und meinte: „Das kannst du auch, glaube mir!“
Dann saßen wir vor den gefüllten Tellern und ließen uns die gute Suppe schmecken. Danach gab es ihren wunderbaren Omelettenkuchen. Diese Kochzeremonie genoss ich immer, denn die erste Palatschinke durfte ich sofort essen, weil sie fast niemals gelang. Dann wurden meistens zehn Omeletten in der Pfanne gebacken und mit einem Zucker-Kakao-Gemisch bestreut und zu einem Kuchen aufgetürmt. Dazu gab es meistens Zwetschkenkompott, das meine Oma in den alten Rexgläsern im Herbst eingefüllt hatte. Diese Köstlichkeiten liebte ich. Danach räumten wir das Geschirr ab und dann trank meine Oma ihren Kornkaffee von Linde und für mich gab es ein Glas mit selbstgemachtem Holundersaft. In dieser trauten Zweisamkeit tratschten wir über vieles, was uns bewegte, was wir zwei noch machen wollten.
Diesmal aber ging es um Schillers Glocke und nach einiger Zeit konnte ich genauso gut wie meine Oma Zeile um Zeile aufsagen. Sie sprach mir die Verse vor und ich plapperte sie nach. Manchmal wusste ich nicht weiter und da betätigte sie sich als ganz tolle Souffleuse und so erschien mir diese zuerst nicht schaffbare Aufgabe als überhaupt nicht mehr problematisch. Gemeinsam lernten wir Strophe für Strophe beim Abwaschen, beim Spazierengehen und beim Putzen der Fenster. Wort für Wort nistete sich in meinem Gedächtnis ein und ich fand das Lernen sogar spannend und lustig.
Schließlich kam der Tag, an dem ich dieses Gedicht vor meiner Klasse aufsagen musste. Frau Adler hatte ihren strengen Blick aufgesetzt, denn jetzt musste Ruhe herrschen. Dann nickte sie mir freundlich zu und meinte: „Es kann losgehen!“ Es war für mich natürlich aufregend, aber ich schaffte diese Herausforderung mit Bravour. Nicht einmal musste mir die Deutschlehrerin weiterhelfen, meine Oma hatte gute Arbeit geleistet. Großmutter spendierte mir ein Eis und die Welt war wieder in Ordnung, als ich die Note Eins erhielt.
Viele Jahre später erzählte mir meine Freundin Sonja, dass man die Glocke in Sekunden erlernen könnte. Ich schüttelte den Kopf und sah sie fragend an. Mit Schmunzeln erzählte sie mir, dass ihr Vater mit drei Zeilen die Glocke wiedergeben konnte: Bisschen Kupfer, bisschen Zinn, Glocke fertig, bim, bim, bim!
Noch heute schmunzle ich über diese grandiose Version und ich denke mir, was wohl Frau Direktor Adler gesagt hätte, wenn ich diese Kurzversion zitiert hätte. Eines wäre sicher gewesen, ich hätte das Lied von der Glocke lernen müssen, aber gelacht hätte sie über diese Interpretation, denn Humor zeichnete ihre starke Persönlichkeit aus!
© Christine Büttner 2021-05-16