Schlaflos

Daniel Selent

von Daniel Selent

Story

Die Realität wird für den zum Traum, der nicht schläft. Diese Wahrheit hat sich mir nach etwa acht Wochen ohne Schlaf offenbart. Wenn du nachts wach in deinem Sessel sitzt und aus dem Fenster starrst, die Augen halb verschlossen vor Müdigkeit und Erschöpfung, beginnen die Pinselstriche der Wirklichkeit seltsame Formen anzunehmen. Dreidimensionale Objekte verschmieren wie Kinderzeichnungen, die Erde blutet in den Himmel, Menschen und Tiere verwandeln sich in Albtraumgebilde. Nein, die Realität wird zum Albtraum. Ein Fieberwahn ohne Ende und ohne Krankheit.

Ärzte und Schlafexperten kratzen sich bei meinem Fall den Kopf, führen ihre Experimente und Tests an mir durch und zucken schließlich mit den Achseln. Schicken mich mit verschiedenen herkömmlichen (und experimentellen) Medikamenten nach Hause. In meinen Augen liegt das Problem tief vergraben in meinem übermüdeten Schädel, verscharrt und ignoriert bis zu dem Tag, an dem die Schlaflosigkeit begann.

Ich sitze um kurz vor Mitternacht auf meinem alten roten Ledersessel, der Fernseher rauscht und leuchtet abwechselnd im Wohnzimmer, Stimmen und Musik hätten mich längst in den Schlaf gewiegt, wäre dieses kleine Schlafproblem nicht gewesen. Mein Blick haftet an dem Schnee, der sich im Viereck des Bildschirms umhertreibt; ich fühle mich so kraft- und formlos. Mein Körper fühlt sich wie eine teigige Masse an, das Fleisch hängt lose an den Knochen. Die Gedanken sind unzusammenhängend – warum ist es plötzlich so kalt?

Es schneit! Ein steifer Wind bläst mir Schneeflocken ins Gesicht, die schneidende Kälte erfrischt und schmerzt auf meinen Wangen. Ich schaue auf: Der Schnee kommt aus dem Fernsehbilschirm, dahinter breitet sich eine karge Winterlandschaft aus. Ein eisblauer Himmel brennt über Schneedünen.

Ich kann mich nicht bewegen, allerdings verspüre ich auch nicht den Wunsch danach. Die Panik keimt nur verkümmert in mir auf, denn die Kälte fühlt sich so angenehm auf der Haut an. Langsam hebe ich eine Hand. Die feinen Härchen stehen aufrecht auf dem Handrücken. Große Lust überkommt mich, einfach in den Fernseher zu steigen und mich in den pulvrigen Schnee zu legen.

Draußen vor dem Fenster gleiten geflügelte Spinnen durch die Nacht, sie leuchten giftgrün und klettern auf meinem Balkon herum. Die Nachbarhäuser schmelzen und vergehen wie Eis am Stiel. Haarlose Kreaturen mit langen, vielgliedrigen Beinen durchstreifen die Stadt. Aus dem rötlich schimmernden Mond schlüpfen Engel!

Das Universum schmilzt und setzt sich aus der Ursuppe neu zusammen. Die Hitze des Wachtraums, der Horror der Schlaflosigkeit! Ich brenne!

Mit der letzten Kraft, die ich noch aufbringen kann, wuchte ich mich von meinem Sessel hoch und zwänge mich durch den Fernseher. Plötzlich liege ich auf weichem, seidigem Schnee. Es ist so friedlich.

Die Augen fallen mir zu. Ich kann noch denken: „Endlich!“ Dann wird alles um mich herum schwarz …

© Daniel Selent 2023-07-14

Genres
Spannung & Horror, Anthologien
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional