Schlüsselerlebnis

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story
Graz

Bei der Eingangstür steht, dass es hier ums Verschließen und Öffnen geht. Ums Binden und Lösen. Ich mag solche Begriffspaare. Sie setzen etwas in Gang. Gedankenspiralen.

Ich löse eine Eintrittskarte. Meinen Rucksack stell ich im Büro neben dem Schirmständer ab. Dann schlüpf ich aus den knöchelhohen Wanderschuhen und ziehe meine Trekking-Sandalen an. Ich hab in Graz nur einen Zwischenstopp eingelegt.

Ob ich eine kleine Einführung zu den ausgestellten Exponaten wünsche, fragt mich die Frau, die im klimatisierten Büro die Stellung hält. Ich verneine, aber behalte mir vor, falls ich Fragen hätte, später auf ihr Angebot zurückzukommen. Ich bin die einzige Besucherin. Eigentlich wollt ich ins Museum der Wahrnehmung, doch als ich dort ankam, las ich: Vorübergehend geschlossen, was mir die Suchmaschine im Internet aber verschwiegen hatte. Da montags in Graz nur wenige Museen offen sind, googelte ich aufs Neue, und so fiel meine Wahl auf die Schell Collection.

Geschlossen und offen. Hier bin ich goldrichtig. Ich öffne mich für die Schell Collection, die weltweit größte Sammlung von Schlüsseln und Schlössern. Ein eifriger Sammler ist er, erzählt mir die Frau im Büro, und obwohl Hanns Schell schon 85 ist, kommt er fast täglich ins Museum und führt so manche Gruppe selbst durch die Räumlichkeiten, heute leider nicht, fügt sie hinzu und drückt mir einen Flyer in die Hand.

Hanns Schell, ehemals passionierter Bergsteiger, hat sich an mehreren Achttausendern versucht. In den 1960er-Jahren bereiste er den Iran und Pakistan. Seitdem sammelt er Schlüssel und Schlösser und Gegenstände, die versperrbar sind. In den Schaukästen bestaun ich kostbare Kassetten, Truhen und Tresore. Über 7000 Schlüssel aus allen Epochen sind hier ausgestellt, filigrane Exemplare mit fein ziselierter Reide sowie robuste, plumpe. Reide, so lese ich, nennt man den Griff. Ich notiere ein paar Fachtermini in meinem Notizblock: Eingericht / Gewirre, Gesenk, Volldorn, Hohldorn und Bart.

Im 2. Stock gibt‘s Erzeugnisse aus Gusseisen: Zunftzeichen und Keuschheitsgürtel. Es soll ein Ammenmärchen sein, wenn behauptet wird, dass die Frauen im Mittelalter monatelang einen Keuschheitsgürtel trugen, der sie zur Enthaltsamkeit zwang, während ihre Männer auf Kreuzzug waren. Erstens würde dem widersprechen, was man heute über Hygiene und Krankheiten von damals weiß, und zweitens setzte die Massenproduktion der eisernen Gürtel viel später ein. Da waren die Kreuzzüge – sie fanden zwischen 1100 und 1300 statt – längst Geschichte. Folgende Geschichte aber ist wahr:

Im Jahre 1180 verfasst eine Nonne bei flackerndem Kerzenschein einen Liebesbrief auf Latein. Sie schließt ihn in ihrer Muttersprache, nicht wissend, dass sie gerade das erste und bekannteste Liebesgedicht in deutscher Sprache verfasst: Dû bist mîn, ich bin dîn, / des solt dû gewis sîn. / dû bist beslozzen / in mînem herzen, / verlorn ist daz sluzzelîn, / dû muost ouch immer darinne sîn.

Die darauffolgende Nacht hab ich einen eigenartigen Traum. Den muss ich noch entschlüsseln.

© Sonja M. Winkler 2023-09-14

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