von Gerda Modera
Du bist männlich, dominant und unberechenbar. Sogar im Schlaf lässt du mir keine Ruh. Du bestimmst, wann und wie oft du kommst, wie weit du deinen Stachel ausfährst, mitten ins Fleisch hinein. Es fühlt sich an, wie wenn hunderte Bienen gleichzeitig ihr Gift abgeben. Du verzerrst mein Gesicht, stoppst meinen Atem, lässt mich erstarren. Dann zerfließt du langsam. Heiß, oder kalt? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ROT.
Schön langsam wirst du mürbe. Du fühlst dich dumpfer an, weniger schrill und weniger rot. Nach drei gemalten Schmerzbildern und zwei Infiltrationen, lässt du, Schmerz, endlich nach. Die letzte Nacht war lang und gut. Demenz kann das Schmerzgedächtnis löschen? Hab ich das etwa geträumt? Das Buch über Validation liegt noch aufgeschlagen neben mir. Überschrift: „Wie geht man mit seinem eigenen Alterungsprozess um? Akzeptieren Sie die körperlichen Verluste des Älterwerdens.“ Haha, das kann ich gerade brauchen. “Beobachten sie ihren Körper” Nona! “Hören Sie auf ihre Gefühle”. Ich schließe die Augen und spüre hinein. Bist du etwa die Freude? Es fühlt sich eher wie Sorgen an. Klappt der morgige Wechsel der neuen 24 Stundenbetreuung? Dankbar sein, dass jemand diesen gering bezahlten Job macht. Die BetreuerInnen nehmen in Kauf, in manchen Nächten mehrmals nach dem zu Pflegenden zu sehen, keinen freien Tag zu haben. Oft sind sie mehrere Wochen durchgehend von ihren Familien und kleinen Kindern getrennt. Das Handy gibt dabei Halt und lenkt ab. Die Pausen werden vertelefoniert, das zukünftige Gehalt wird in der Heimat schon sehnsüchtig erwartet.
Heute fahre ich wieder Richtung Süden. Unser Auto kennt schon die Strecke, kennt jedes Radar, fährt fast von alleine. Genug Zeit zum Nachdenken. Was wird mich diesmal erwarten? Angeblich hat die Desorientierung meines Vaters seit dem letzten Besuch zugenommen. Auf viel Schlaf folgt starker Gestaltungswille, Wut und Zorn über den Rollstuhl, das Pflegebett und immer öfter, auf seine Frau. „Er arbeitet auf“. Wörter vom Vergessen zum Vergessen. Diesmal wird die Mutter mehr Gehör brauchen, die Kränkungen sind tief gegangen. Alle helfen mit, soweit möglich. Mein Mann und die Geschwister, wir sind ein gutes Team. Das tut gut. Meine Freundin anrufen, das tut gut. An den letzten Enkelbesuch denken, das tut gut.
Vorige Woche ging es Richtung Osten. Ich fahr ja gerne Auto. Bei meiner Tochter angekommen, lief mir Klein Alexandi schon entgegen und wollte sofort schaukeln gehen. Selig lagen wir dabei am Rücken, sein blondes Lockenkopferl auf meinem Oberarm. “Omi, Wawa trinken”! Wie aus der Netzschaukel, die schräg am Abhang aufgebaut ist, wieder herauskommen? Die Pilatesübung “Rolling like a ball” funktioniert auf der Matte super, doch hier? Mehrmaliges, mühsames Hochschaukeln aus der Rückenlage, endlich hatte ich es geschafft. Einschränkungen des Alters akzeptieren!
In der Nacht aber überkam mich eine tiefe Trauer und ich weinte leise in meinen Polster. Neuer Tag, neues Ich!
© Gerda Modera 2021-07-14