von Nina Struckamp
Als Kind saß ich immer, wenn es schneite vor dem Fenster und starrte nach draußen. Schaute den Schneeflocken zu wie sie vom Himmel fielen. War jedes Mal fasziniert, wenn eine von ihnen an der Fensterscheibe kleben blieb und ich die Eiskristalle sehen konnte. Manchmal, wenn mein großer Bruder zu Hause war, ging er mit mir nach draußen, sodass ich die Schneeflocken auffangen konnte. Diese Tage waren die schönsten Erinnerungen, die ich an meine Kindheit hatte. Draußen zu sein mit meinem Bruder, mich um nichts zu Sorgen.
Doch desto älter ich wurde, desto seltener schneite es draußen und desto seltener sah ich meinen Bruder. Ich wusste nicht, wo er hinging, wusste nicht, wo er blieb und meine Mutter sprach niemals darüber. Genauso wenig wie sie über meinen Vater sprach. Wir hatten nicht mal Bilder von ihm in der Wohnung stehen.
Heute saß ich wieder vor dem Fenster und starrte noch draußen, es war der gleiche Platz, auf dem ich als Kind immer saß. Es war sogar die gleiche Jahreszeit, doch bis auf den leichten Frost am Boden konnte man nicht sehen, dass es Winter war. Ich starrte in den Himmel, wann hatte ich das letzte Mal die weißen Wolken voller Schnee gesehen. Ich drehte meinen Kopf, um in die Küche zu sehen. Meine Mutter stand am Herd und kochte. Es war die Lieblingssuppe meines Bruders. Er sollte heute nach Hause kommen, ich wusste zwar nicht, wo er war, aber ich freute mich immer ihn wiederzusehen. An diesen Tagen wünschte ich mir immer noch mehr, dass es schneite. Ich wünschte mir einen Tag ohne die bedrückte Stimmung zu Hause, ohne die Unwissenheit, ohne zu wissen, dass niemand mir erzählen würde was dort draußen los war. Ohne sich so verloren zu fühlen. Ich starrte noch einige Minuten aus dem Fenster, bis ich das Telefon klingeln hörte. Ich sprang auf und wollte es mir nehmen. Doch meine Mutter war schneller, sie wollte nicht das ich ans Telefon ging. Sie wollte nicht das ich irgendetwas mit der Welt da draußen zu tun hatte. Sie lächelte mich an und hob den Hörer an ihr Ohr. Also drehte ich mich um und sah zurück zum Fenster. Es dauerte einige Sekunden bis ich realisierte, was ich draußen sah. Weiße Flocken regneten vom Himmel. Ich konnte es nicht fassen. Es schneite? Genau, wenn mein Bruder nach Hause kommen sollte. Ohne darüber nachzudenken, riss ich die Haustür auf, mit meinen nackten Füßen rannte ich über den Frost überzogenen Boden und blieb in der Mitte unseres Vorgartens stehen. „Mama es schneit!“, rief ich. Ich streckte meinen Kopf in den Himmel und versuchte die Flocken mit der Zunge aufzufangen. Lachend sah ich meine Mutter an als sie im Türrahmen erschien. Es dauerte einen Moment bis ich ihren entsetzten Gesichtsausdruck erkannte und als ich dachte, der Schnee müsste jetzt auf meiner Zungenspitze schmelzen, merkte ich das es anders war. Der Schnee war weder kalt noch, schmeckte er wie ich ihn in Erinnerung hatte. Entsetzt streckte ich meine Hand aus und fing die Flocken auf.
„Asche!“, sagte meine Mutter und ich starrte sie an.
„Sie sind hier und sie bringen nichts als Asche!“.
© Nina Struckamp 2023-08-01