Fast hätten wir Schneewittchen Farben zusammen. Hannah in ihrem weißen Kleid, mit dem tiefen V-Ausschnitt und dem Pailletten besetzten Rock. Man hätte denken können, wir wären auf ihrer Hochzeit und nicht auf dem Abiball. So sehr glänzte sie mit ihren goldenen Locken hervor. Ich stand daneben, mit meinem schwarzen Kleid. Es war nur schwarz, nichts weiter. Meine Mutter hatte kein Neues besorgen wollen. Das Kleid von der Beerdigung meines Opas hatte reichen müssen. Schwarz, weiß und rot. Es fehlte nur rot, aber keiner von uns hatte roten Lippenstift.
“Du siehst ja toll aus!”, begrüßte unsere Lehrerin Hannah. Eine herzliche Umarmung, ein freudestrahlendes Lächeln. Ich bekam nur ein Nicken und: “Hallo Emilia”. Wie immer war Hannah wichtiger. Natürlich, sie hatte ja auch ein 1,0 Abitur. Da konnte ich mit 1,2 nicht mithalten. Sie war die Schönheit, Schlauste, Beliebteste der Klasse. Ich nur die Freundin, die dumm daneben steht. Genau wie jetzt.
Alle begrüßten sie, machten ihr Komplimente. Ich wurde ignoriert. “Kannst du uns zwei Gläser Sekt holen?”, bat Hannah mich. Mit uns meinte sie nicht sich und mich, sondern sich und ihren Freund. Mein Ex, mit dem ich glücklich war, bis sie sich einmischte. Erst war es nur Mathematik Nachhilfe. Sie verzweifelte ja so sehr an dem Thema, trotz dass sie nur Einsen schrieb. Dann kamen zufällige Treffen. Immer mehr Dates, wo Hannah plötzlich aufkreuzte. Und plötzlich war Schluss. Und Hannah war mit ihm zusammen. Aber ich durfte nicht sauer sein, schließlich ist sie ja meine beste Freundin.
Natürlich holte ich den Sekt. Hannah war tanzen, mit allen anderen. Ich war die Einzige, die nicht tanzte. Auf mich achtete ja auch keiner, wie immer. Ich begann den Sekt selbst zu trinken. Er schmeckte nach Ablenkung, nach: “Ich will nicht mehr weinen”. Schon waren es fünf Sektgläser. Ich trank den jahrelangen Schmerz weg, nie gut genug zu sein. Die Kohlensäure störte mich nicht mehr. Ich trank den Sekt wie Shots aus. Langsam merkte ich den Alkohol, aber das störte mich nicht. Viel mehr störte mich Hannah und ihr Freund, lachend auf mich zukommend.
“Komm Emilia, wir machen Bilder zusammen.” Na klar musste ich mit auf Bilder. Sie musste ja noch besser aussehen und stellte sich deshalb neben mich. Sie machte nur Bilder, wenn sie definitiv besser aussah als ich. Postete sie genau die Bilder? Ja klar. War es ihr egal, wie ich mich dabei fühlte? Ja klar. Ich wollte losgehen und stieß ein Sektglas zu Boden. “Die Scherben räumen wir später weg. Komm”, sagte Hannah. Ich stellte mich neben sie. Mit einem perfekten Lächeln blickte sie zur Kamera. Ich blickte auf die Glasscherbe in meiner Hand.
Als der Blitz der Kamera erleuchtete, trat ich vor sie und schnitt ihr die Kehle durch. Andere hätten vielleicht den Schock in ihren Augen bemerkt, die Panik drumherum. Ich sah nur das rot auf dem weißen Kleid. Jetzt hatten wir Schneewittchen Farben. Schwarz wie mein Kleid ,weiß wie ihr Kleid und rot wie ihr Blut an meinen Händen.
© Katharina Kopietz 2022-08-14