Schön leer

Sebastian Lühmann

von Sebastian Lühmann

Story

Sechs Menschen in ganz Deutschland. Stell dir mal vor, auf einer Fläche so groß wie Deutschland würden nur sechs Menschen leben. Nee, was wäre das schön. Niemand, der mir in der zu vollen Bahn auf den Arm atmet, keiner der mir in der Schlange im Modegeschäft in den Nacken hüstelt und genug Platz, um im Einkaufszentrum den Laden zu wechseln, ohne achtmal „Entschuldigung bitte, darf ich einmal durch“ zu sagen. 

Ein dumpfer, kurzer Schmerz zerrt mich aus dem wundervoll einsamen Tagtraum und wirft mich zurück in die zweite Etage des Einkaufszentrums. Links neben mir wirbt Saturn mit 20 Prozent auf neue Kühlschränke, zu meiner rechten erstreckt sich das breite wie Tchibo-eske Angebot von Nanu-Nana. Direkt vor mir ist der Mann, der mich angerempelt hat. Immerhin: Er ist so nett, sich flink zu mir zu drehen und eine entschuldigende Handgeste zu machen, während er bereits in die nächste Person stolpert. Ich lächle ihm zu und nicke. Kein Wunder: Zwischen den beiden Läden tummeln sich siebzig, achtzig Leute und versuchen, unfallfrei zu manövrieren – eine Herkulesaufgabe. 
Dreißig Minuten später ist es endlich geschafft: Das Geschenk für unsere Nichte Luna – sie wird fünf Jahre alt – ist besorgt. Ich habe ihr ein Buch gekauft. Wir waren uns lange uneins, meine Frau Belle und ich. Ein Buch sei vielleicht nicht das richtige für Luna, sie kann noch nicht lesen, gab Belle berechtigterweise zu bedenken. Geeinigt haben wir uns daher auf ein Buch mit vielen Bildern und wenig Text: ein Kinderbuch über den Weltraum. Ein Buch über meine Leidenschaft, mein Hobby. „Zwing sie nicht zu etwas, das sie nicht möchte“, hatte mir Belle vor der Shopping-Tour noch hinterhergerufen. 

Endlich raus aus dem Gebäude rufe ich sie an, erzähle ihr über die Querelen des Einkaufs, wie sehr ich Einkaufszentren und Menschenmassen doch hasse und wie müde ich bin. „Bald bist du zu Hause“, sagt sie. „Kopf hoch.“ Lieb‘ ich ja, solche Aussagen. Danke für nichts, denke ich und setze mich auf eine Bank einige Meter vom Eingang entfernt. Ich atme tief ein, schließe meine Augen und öffne sie erst, nachdem ich meinen Kopf gänzlich in den Nacken gelegt habe. Mein Blick geht in den klaren, mittlerweile dunklen Himmel dieses Septemberabends und ich verliere mich in Gedanken. 
Welch schöner, ruhiger Ort das Universum doch ist, schießt es mir durch den Kopf, während ich die ersten vereinzelten Sterne erblicke. So unendlich groß und voller Überraschungen, gleichzeitig so herrlich leer und umgeben von Stille. Wobei „leer“ ein Understatement ist. Wäre Deutschland so dünn besiedelt, wie das Universum in Bezug auf seinen vorhandenen Raum leer ist, würden lediglich sechs Menschen hierzulande leben. Schwer vorstellbar, wenn es gleichzeitig mehr Sterne in der Milchstraße als Sandkörner auf der Erde gibt – aber es zeigt eben auch, wie verdammt groß das All ist und wie riesig die Abstände zwischen den Himmelsobjekten sind. Ich muss schmunzeln. Diese zwei Minuten für mich haben gutgetan, ich fühle mich besser und muss feststellen: Meine Frau hatte recht. Es hat geholfen, den Kopf hochzunehmen.


© Sebastian Lühmann 2023-07-02

Genres
Humor& Satire