Schön, schön – schön war die Zeit (?)

Susanne Paulus

von Susanne Paulus

Story

Das Dorf meiner Kindheit liegt idyllisch in einem engen Tal des Alpenvorlands eingebettet. Ich wuchs in Liebe, Geborgenheit und gewissem Wohlstand auf und hatte immer alles, was ich brauchte.

In der Schule wurde mir neben soliden Kenntnissen der Grundkompetenzen vermittelt, was fürs erfüllte Frausein als unabdingbar angesehen wurde: Socken und Pullover stricken, Babysachen häkeln, Kochschürzen und Nachthemden nähen, Drei-Gänge-Menüs kochen. Weiters brav und artig sein, kuschen, nicht widersprechen, wenig fragen, den Mund halten.

Kinder mit besonderen Bedürfnissen wurden von den Mitschülern oft ausgegrenzt, verspottet und verlacht, von Seiten der Lehrer erhielten sie wenig Rückhalt. Ich erinnere mich an die Klassenkameradin, die sommers wie winters in denselben, viel zu großen Schuhen ihrer Brüder und mit dem hässlichen, zerbeulten Schulranzen kilometerweit zu Fuß in die Schule hatschte und sich im Turnunterricht in Grund und Boden schämte, wenn sie sich umziehen musste und alle ihre löchrige Wäsche sahen.

Szenen mit geohrfeigten, an Haaren und Ohren gezogenen, vor der ganzen Klasse gedemütigten Schülern fallen mir wieder ein, sexuelle Übergriffe des Lehrers, seine Hände in meinem Haar wühlend und sein heißer Atem in meinem Nacken, bis er sich an die Nächste schmiegte. Kein Sterbenswort davon wurde zu Hause verlautet, über „so was“ sprach man nicht. Darauf konnte sich der Lehrer verlassen.

Die Mütter standen derweil ahnungslos am Herd, schupften den Haushalt und zogen die Kinder groß, viele schufteten zudem bis zur Erschöpfung in der Landwirtschaft. Beim Kinderkriegen hielt ihnen kein Partner die Hand, das war Frauensache, so wie Babys wickeln, baden, füttern und Kinderwagerl fahren. Dafür brauchte es keinen Führerschein, die großen Wagen fuhren die Männer. Frau und Kinder wurden gefahren. Eine gefährliche Sache, denn es gab weder Kindersitze, Sicherheitsgurte noch Airbags. Viele Todesopfer gab es im Verkehr, Kreuze säumten die Landstraße.

Auch der Kriegsopfer wurde gedacht. Der Krieg war nicht gar so lange her. Kriegsversehrte mit zittrigen Händen oder fehlenden Gliedmaßen, mit Stöcken und Krücken, prägten das Ortsbild. Ich fragte mich immer, was die Einbeinigen wohl mit dem zweiten Schuh machen würden. „Ich hatt‘ einen Kameraden …“, alljährlich am Kriegerdenkmal gesungen von Veteranen mit feuchten Augen, in Uniform und Habt-Acht-Stellung. In der Schule lernten wir auch dieses Lied: „… Eine Kugel kam geflogen … Ihn hat es weggerissen, er liegt mir vor den Füßen, als wär’s ein Stück von mir.“ Noch heute schaudert mir davor.

Es war die Zeit der Kriegstraumata, des Verdrängens und Vergessenwollens, aber auch des Neuanfangs, des Wirtschaftswunders und der beginnenden Emanzipation. Der technische Fortschritt in meiner Generation ist enorm und galoppiert in eine ungewisse, gefährdete Zukunft. Wird die „Gnade der späten Geburt“ nach der Katastrophe zur „Gnade der frühen Geburt“ vor der nächsten?

© Susanne Paulus 2022-05-26

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