Schräg gegenüber

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

Sie wohnt schräg gegenüber … ich kenne sie kaum von Angesicht … aber ich höre sie.

Sie ist noch jung. Ich schätze sie auf Mitte 20. Motorradfahren hat uns mal kurzfristig verbunden … das war vor Jahren … Seitdem habe ich sie kaum, allenfalls mal aus der Ferne gesehen.

Sie weint … fast ständig … mal laut, mal leise – zur jeder Tages- und Nachtzeit, zu jeder Stunde, oft den ganzen Tag.

Wenn sie laut weint, dann schreit sie. Das Fenster ist auf – am Tag verschluckt der Lärm ihr Schreien. Nachts nicht. Nachts ist es besonders schlimm, wenn alles still ist, wenn der Straßenlärm verstummt ist. Wenn alle schlafen.

Sie nimmt keine Rücksicht auf die Uhrzeit. 23.00, 24.00, oft bis 2.00 nachts oder länger. Sie nimmt keine Rücksicht auf die Uhrzeit.

Das Fenster ist nicht geschlossen – oft weit geöffnet. Und ihr Schreien hallt dann durch die Nacht. Undeutliche Worte, oft nur ein Schluchzen – dann ein Wimmern – auch mal ein Brüllen und dann immer wieder endloses Schluchzen.

Nachts ist es besonders schlimm – wenn die Nacht sich lau ausbreitet – der Mond noch hinter Wolken sich befindet – Temperaturen zum Verweilen im Garten einladen. Eigentlich könnte es so beschaulich, so angenehm sein – doch dann wieder ihr Weinen, Schluchzen, Schreien …

Sie wohnt noch bei ihren Eltern. Die sind machtlos. Sie reden, betteln, schimpfen, flehen – sie geht kaum drauf ein …

Sie schreit.

Ich könnte die Polizei holen … Ruhestörung!

Ruhestörung?

Keiner holt die Polizei – niemand beschwert sich – in der Straße haben wir uns stillschweigend verständigt – finden uns ab mit ihrem lauten Weinen – mit den Reaktionen der Eltern, dem Schimpfen des Vaters, dem Betteln der Mutter.

Wir ertragen es alle … tagsüber und des Nachts.

Niemand kann helfen.

Dann Stunden der Ruhe – lassen oft Hoffnung aufkeimen .

Doch vergeblich!

Irgendwann kommen diese klagenden Geräusche wieder. Immer wieder.

Sie ist nicht gesund. Ich weiß es und muss es ertragen.

Wir alle auf der Straße wissen es und ertragen es. Haben uns gewöhnt an diese zum Teil undefinierbaren Geräusche, die durch die Nächte unwirklich hallen, weil sie von einem kranken Menschen kommen.

Wir ertragen es, weil wir wissen, dass hier ein Mensch leidet. Leidet, weil sie seit ihrer Geburt durch einen Hirnschaden beeinträchtigt ist. Weil ihre Eltern ihre einzige Tochter nicht in eine alles-ruhig-stellende Psychoanstalt geben wollen.

Wir bedauern das Mädchen … Sie ist wohl Mitte 20 … und niemand kann helfen?!

Niemand!

Ich kann nicht helfen – aber ich ertrage es, weil auch die Eltern es ertragen.

Was müssen die Eltern leiden!?

Ich kann das Schreien nicht überhören.

Aber ich kann es ertragen.

© Heinz-Dieter Brandt 2020-09-12

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