von Gabriele Leeb
Ein furchtbarer Schrei hallt durch die Nacht. Mit pochendem Herzen sitzt sie aufrecht im Bett und horcht in die Dunkelheit hinein. Noch ein Schrei! Sie greift nach ihrem Handy, weil sie fühlt sich dadurch sicherer. Sie hält sich direkt fest daran. Ein dritter, markerschüttender Schrei durchbricht die Stille. Dann nichts mehr, gespenstische Ruhe. Sie wartet noch eine Weile, doch es bleibt weiterhin still. Sollte sie jetzt noch den Notruf wählen?
Sie steht auf und begibt sich zum Fenster. Sie zieht den Vorhang ein wenig zur Seite und blickt hinaus. Sie kann nichts erkennen, es ist stockfinster. Vielleicht war es doch ein Tier? Sie legt sich wieder nieder, lässt aber das Nachtlicht brennen. Ihre Standuhr schlägt 23 Uhr. Sie dreht das Radio auf und hört Klaviermusik. Fünfzehn Minuten später ist sie wieder eingeschlafen.
Schlag 24 Uhr wird sie durch ein Kratzen an der Tür aufgeweckt. Sie fragt:“Ist da wer draußen? “ Keine Antwort. ” Hallo, ist da wer?“ Nichts. Hat sie sich doch getäuscht? Sie vernimmt kein Geräusch mehr. Sie hat sich wohl geirrt. Sie kocht sich einen Kamillentee und nimmt eine Schlaftablette. Sie muss um sechs Uhr aufstehen, sie braucht ihren Schlaf. Die Tablette tut ihre Wirkung und sie schläft ein.
Kurz vor halb sieben wird sie munter. Sie hat sich verschlafen und ihr Kopf brummt. Sie steht auf und kocht sich einen Espresso. Soll sie sich krankmelden, überlegt sie? Sie fühlt sich wirklich nicht wohl. Sie entschließt sich in der Firma anzurufen und mitzuteilen, dass sie einen Arzttermin habe und sich freinehmen werde. Sie schlürft ihren heißen Espresso in kleinen Schlucken und legt sich wieder ins Bett. Im Fernsehen sind die Morgennachrichten und es wird bekannt gegeben, dass eine Frauenleiche ganz in ihrer Nähe gefunden wurde. Zirka drei Kilometer von ihrem Haus entfernt. Sie ist erschüttert und zugleich verängstigt und doch irgendwie erleichtert, dass es nicht sie getroffen hat.
Könnten das die Schreie gewesen sein, heute in der Nacht? Sie würde die Polizei anrufen müssen. Jetzt dann, gleich. Sie will zum Handy greifen, es ist nicht da. Sie nimmt ihr ganzes Bett auseinander, dreht alles um. Es ist nicht zu finden. Mein Gott, das gibt es doch nicht. In der Nacht hatte sie es ja noch in der Hand! Sie sucht zuerst das Schlafzimmer und dann die Küche ab, nichts. Das Handy bleibt wie vom Erdboden verschluckt.
Was soll sie tun? Sie zieht sich voller Panik an, nimmt ihre Handtasche mit ihren Autoschlüsseln und öffnet ihre Tür. Sie sieht den Schlag nicht kommen und fällt lautlos auf die Stufen. Eine große Blutlache bildet sich um ihren Kopf, doch ihr Geist hat diese Welt bereits verlassen.
© Gabriele Leeb 2022-10-17