Schriftsetzer – Schriftsteller

Malte Leyhausen

von Malte Leyhausen

Story

Es gab eine Zeit, da wurde die Schrift noch mit der Hand gesetzt. Buchstabe für Buchstabe. Die Druckform wurde später in die Druckmaschine gespannt, um mit schwarzen Lippen jedes unbeschriebene Blatt einzeln zu küssen. Was heute nach Mittelalter klingt, war in meiner Kindheit noch eine untergehende Ära. Und meine Kindheit ist erst fünfzig Jahre her. Mein Vater betrieb so eine Schriftsetzerei mit bis zu dreißig festen und freien Mitarbeitern. Die langen Schränke, in denen die Setzkästen mit den verschiedenen Schrifttypen die Schubladen bildeten, reichten den Erwachsenen bis zum Bauchnabel. Ein Schriftsetzer musste über beeindruckende Fähigkeiten verfügen. Zum Beispiel beherrschte er die Kunst, den gesetzten Text kopfüber in Spiegelschrift lesen zu können.

Einen anderen Raum füllte eine imposante Setzmaschine. Das Wundergerät bot eine mechanische Tastatur. Bis vor kurzem glaubte ich, der gigantische Apparat hätte die Bleibuchstaben in die Druckform geschossen. In Wirklichkeit spuckte er für jeden Buchstaben eine Gussform aus und reihte sie zu einer Matrizenzeile, die hinterher mit einem teuflischen Gemisch aus Blei, Antimon und Zink ausgegossen wurde. So ließ sich der benötigte Satzspiegel für die Druckform maschinell setzen und nach Gebrauch wieder einschmelzen.

Das Handwerk brachte auch bildhafte Begriffe hervor, die zu Herzen gehen: Brotschrift. Das ist der Schrifttyp für den Fließtext, das tägliche Brot des Setzers. Blindtext meint einen Text, der keinen Sinn ergibt und als Dummy nur das Schriftbild simuliert. Ein Schusterjunge umschreibt die erste Zeile eines Absatzes, die es nicht auf die nächste Seite geschafft hat und am unteren Rand der vorherigen Seite einsam das Schriftbild verhagelt. Sein Gegenspieler ist das mittlerweile politisch unkorrekte Hurenkind, die letzte Zeile eines Absatzes, die auf die nächste Seite überlappt und dort allein in der Kälte steht. Ebenso zweideutig verhält es sich mit dem Gautschen. Bezeichnete es ursprünglich das Auspressen des Wassers bei der Papierherstellung, erlangte es bald einen zweiten feucht-fröhlichen Sinn. Traditionell werden die frisch gebackenen Drucker- und Setzergesellinnen und -gesellen beim Gautschfest in eine Wanne geworfen und getauft. Ich erinnere mich an eine Setzertaufe, bei der mein Vater sich als Johannes Gutenberg, dem Erfinder des Buchdrucks, verkleidet hatte. Ich durfte ihm als Ghostwriter für seine Rede ein paar Verse beisteuern: „XY, der Geniale, schmeißt jetzt in Hamburg die Filiale.“ Musikalisch wurde die Gaudi von einer Dixielandband untermalt, die im Keller der Setzerei ihren Probenraum hatte. Auch hier ertönten auf amerikanische Evergreens deutsche Reime, die meinem Vater aus der Seele sangen: „Wäre ich ein Scheich, dann wäre ich so reich …“

Mark Twain entwickelte sich vom Schriftsetzer zum Schriftsteller. Ich wollte den Schriftsetzer überspringen und gleich als Autor einsteigen. Mein Vater hat mir hierzu den Steigbügel gehalten …

© Malte Leyhausen 2024-03-22

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