von kleinschreibung
Es gibt kein Gegenteil von schüchtern. Zumindest fällt mir keins ein, während ich um drei Uhr nachts die Zimmerdecke anstarre. Gäbe es eins, könnte ich eine passende Antwort formulieren und die Situation in meinem Kopf anders auflösen. Aber was soll man auch erwidern, wenn die Arme voller Einkäufe sind, weil man sieben Minuten vorher Einkaufswagen noch für die überflüssigste Erfindung nach Pinkygloves hielt.
Was also antwortet man in diesem Setting auf ein patronisierendes „Na, sei mal nicht so schüchtern“, das er – weiß, promovierter Therapeut an der Schule des Lebens, im besten Alter, bringt wahrscheinlich gerade seine Memoiren im Selbstverlag raus – mir – irgendein Pastellbraun, Studium seit mindestens drei Semestern auf der Zielgeraden, wichtige identitätstheoretische Fragen noch nicht abschließend geklärt – höflich an der Kasse ins Gesicht wichst.
Wie immer, wenn fremde Menschen unerwartet mit mir sprechen, verziehe ich den Mund automatisch zu einem verkniffenen Lächeln (weil jetzt lächel doch mal) und ziehe leicht die Schultern hoch. Kurz schießt mir durch den Kopf, dass er jetzt vielleicht denkt, dass ich seine Sprache gar nicht spreche und dann muss ich daran denken, dass das in einem übertragenen Sinn sogar stimmt, wenn seine Sprache ist, andere Menschen übergriffig vollzuquatschen. Dann denke ich, warum ich eigentlich daran denke, was er denken könnte, wenn er wohl überhaupt sehr viel weniger darüber nachzudenken scheint, da er schon ermutigt (wieso?) weiterredet: „Daran musst du arbeiten, das ist doch nicht schön. Wenn so viele Leute stehen, da muss man schon nach einer zweiten Kassa rufen!“ Ach so darum geht es, sein kühner Ausruf „Zweite Kassa“ schrillt in meinen Ohren noch nach. Kein Bitte, kein Danke, einfach Peng. Das Selbstvertrauen eines durchschnittlichen weißen Mannes einmal zum Mitnehmen bitte. Nein, verdammt, ohne bitte.
Auch zynisch, da lernt man sein ganzes Leben lang still zu sitzen und nicht zu widersprechen, fühlt sich auf die Welt vorbereitet und rennt dann in so einen chatty Boomer, der erstmal mansplaint, dass das alles falsch war. Ich mein, duh, natürlich war das falsch, aber nicht so wie du meinst, Opi to be. Oder mit anderen Worten, ich würde gerade gern all meine Schüchternheit nehmen und sie dir in dein Gesicht drücken, damit du endlich mal aufhörst zu reden. Vielleicht können wir uns dann darauf einigen, dass Schüchternheit gar keine Diagnose ist und die negative Konnotation dieses Begriffs vergessen. Denn jetzt liege ich hier nachts wach, denke unfreiwillig über dich und deine Life-lesson nach und muss mich bewusst daran erinnern, dass Self-love nicht exklusiv nicht-schüchternen Leuten vorbehalten ist. Vielleicht können wir Menschen dann einfach sein lassen, wie sie sind, ohne ihnen irgendwas, schon gar nicht das Selbstbewusstsein, abzusprechen. Denn das ist definitiv auch nicht das Gegenteil von schüchtern. Gute Nacht.
© kleinschreibung 2021-04-18