von MWagner
Schuhe.
Hallo, ich bin Paul und ich bin 65 Jahre alt.
Ich komme aus Polen und bin vor 40 Jahren mit meiner Familie hier nach Deutschland gekommen. Meine Familie, das sind meine Frau und meine zwei Töchter.
Heute erzähle ich euch eine Geschichte über Schuhe:
Ich lebe in Deutschland seit 40 Jahren und erst letztes Jahr habe ich mir mein erstes paar neue Schuhe gekauft. Für mich – ganz allein. Ein neues Paar Schuhe.
Wie kam es dazu? – Nun, als ich meine Frau im Alter von 20 Jahren kennenlernte, hatte sie den großen Traum nach Deutschland zu ziehen. Bei uns im Land herrschte der Kommunismus und Polen war kein schöner Ort, um zu bleiben und zu leben. Also machten wir uns auf den Weg nach Deutschland. Wir hatten bereits unsere erste Tochter. Sie war zwei Jahre alt und unsere zweite Tochter kam mitten auf dem Weg zur Welt.
In Deutschland angekommen, herrschte zu der Zeit eine lustige Willkommenskultur. In den ersten Jobs, die ich gefunden hatte, wurde ich begrüßt mit: „Oh nein, Ausländer! Die können kein Wort Deutsch“ und „Ihr nehmt uns unsere Arbeitsplätze weg!“ Aber ich brauchte Geld, also blieb ich und ging, wie nennt man das hier „schuften“.
Aber nicht für mich, sondern für alle anderen. 50 Prozent meines Lohns gingen weg für den Staat. Der restliche Teil ging weg für die Deckung der Kosten und die Versorgung meiner Frau und meiner Töchter.
Meine Töchter reiften heran und so stiegen proportional zu ihren Größen auch die Ausgaben. Neue Schuhe, neue Kleidung, Hobbys. Wir konnten uns das alles leisten. Nur ich – ich trug meine Schuhe, die ich aus Polen mitgebracht hatte. Ich trug sie das erste Jahr, jeden Tag zur Arbeit, ich trug sie das zweite Jahr und das Jahr danach und das danach. Und schon waren zehn Jahre um. Einmal hatte ich ein Loch in der Sohle bemerkt. Ein ganz kleines, das stopfte ich mit einem Kaugummi. Danach ging schon die Farbe ab, das bemalte ich mit einem schwarzen Filzstift meiner Tochter. Und so hielten diese Schuhe weitere zehn Jahre. Als unsere Kinder älter wurden, ging auch meine Frau „schuften“. Warum schuften? Nun ja, niemand in diesem Land hatte unsere Zeugnisse, anerkannt, sodass wir unsere Berufe, die wir in Polen gelernt hatten, auch hier ausüben konnten. Unsere Kinder schickten wir hier in Deutschland auf die besten Schulen, in die besten Ferien, auf die besten Unis, damit sie eines Tages Geld verdienen können und nicht schuften müssen.
Und was mich anging, ich blieb dabei. Ich trug meine Schuhe, die einzigen, die ich hatte, jeden Tag zum Schuften.
© MWagner 2023-09-28