von Funke
Die Welt stand still. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, der alle Geräusche, Gerüche und die Zeit ausschaltete.
Ich sah uns, still stehend in der großen Eingangshalle. Ich sah sie. Ihre Finger, die die Nachricht hielten. Sie atmete nicht, sie blinzelte nicht, sie bewegte sich nicht. Es war der Augenblick, in dem sie die schlimmste Nachricht ihres Lebens erhielt und die Sekunden, die ihr Kopf brauchte, der Nachricht Erinnerungen, Emotionen und Schmerz anzuknüpfen. Dem Satz mehr zu geben als die stumpfen Worte: Er ist tot.
Als ihr Herz es begriff, begriff, was ihre Augen gelesen hatten, zerbarst der Augenblick des absoluten Stillstandes. Ihr Körper übernahm wieder die Kontrolle, erinnerte sie daran zu atmen und ließ sie verzweifelt nach Luft ringen.
Ich sah, wie ihr Unterkiefer und ihre Finger sich verkraften. Als ich sie leicht an der Schulter berührte, drehte sie sich um und sah mich mit diesen stechenden blauen Augen an. Starrte in mein Gesicht, während Hass sich in ihm ausbreitete. Vorsichtig streckte ich meine Hand nach ihr aus. Tränen liefen mir die Wangen herunter. Diese Wut, dieser Hass, diese abgrundtiefe Verzweiflung und das Gefühl des Verlustes in den Augen eines Menschen zu sehen, den man mehr liebt als sein eigenes Leben, war die größte Folter, die jemand erleiden konnte.
Sie begann zuschreien, schlug meine Hände weg.
Ich wünsche nie jemandem so einen Schrei zu erleben. Diese geballte Menge an Schmerz konnte eine Seele nicht ertragen. Sie sank auf die Knie. Die Hände auf die Ohren gepresst, jede Faser ihres Körpers angespannt. Ich konnte ihr nur zusehen, wie sie auf die Seite glitt, die Arme und Beine wie bei einem Krampf völlig starr. Sie hielt sich mit ihren gekrallten Fingern immer wieder die Brust und den Kehlkopf, die sie einschnürten. Es dauerte viele Minuten, bis sie sich nicht mehr in den Schmerzen wand. Ihr Herz hatte einen Riss bekommen und ließ sie nun mit keiner Energie mehr übrig. Sie konnte keinen Muskel mehr bewegen. Lag einfach da, schlaff, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Leise. Nach dem ihr Körper so hart gekämpft hatte, konnte er nicht mehr, wollte er nicht mehr. Er hatte einen Punkt erreicht, in dem ihm das Loslassen von dieser Welt als einfachste Möglichkeit erschien.
Ob sie irgendwann bewusstlos wurde oder einschlief, wusste ich nicht mehr. Aber als ich sie hochhob, um sie ins Bett zu legen, wusste ich, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sie in den Armen hielt. Die verbliebenen Tränen auf ihren Wangen hinterließen einen Abdruck auf der Schulter meines Hemdes, während sie schlaff in meinen Armen lag. Ich sah sie ein letztes Mal an. Küsste ein letztes Mal ihre Stirn.
Immer wieder sah ich den Moment, als sie begriffen hatte, was ich getan haben musste. Es waren diese wenigen Sekunden, als sie mir in die Augen geblickt hatte, die mir sagten, dass sie mir nie verzeihen würde. Ich hatte den Menschen, den ich am meisten auf dieser Welt liebte, für immer verloren, denn ich war schuld.
© Funke 2022-03-25