Schuld(2)

whatever

von whatever

Story

Auf den Krankenbesuch bereitete ich mich nicht sonderlich gut vor, ich wusste nicht, dass ich meine Oma das letzte Mal sehen würde. Vielleicht hätte ich es ahnen können, aber wie schon die letzten Monate habe ich das Gefühl komplett verdrängt. Ich brachte keine großen Geschenke, keinen Blumenstrauß, keine Karte mit, nur einen Saft, von dem meine Mutter meinte, Oma trinke diesen gerne. Sie war etwas desorientiert, aber wir konnten uns einigermaßen gut unterhalten. Meine Großmutter erzählte mir, dass sie während der OP fast gestorben wäre. Ich sagte nicht, wie furchtbar das gewesen wäre oder dass ich sie liebe. Stattdessen nickte ich nur und wir wechselten das Thema. Sprachen über Bücher, die sie mir noch im September geschenkt hatte, meine Geschwister. Ein paar Tage später wurde Oma wieder in die Uniklinik gebracht, wo zu diesem Zeitpunkt niemand zu Besuch kommen durfte und ich musste an meinen Studienort zurück. Große Sorgen machte ich mir nicht. Die letzten Monate war es ja immer so ein Hin-und Her gewesen, aber bisher war alles gut gegangen, wieso sollte das jetzt anders sein? Sie starb am 19.Januar, ohne dass ich mich davor noch einmal persönlich verabschieden konnte.

Seither ist alles ein wenig dunkel. Ich fühle mich unheimlich schuldig, weil ich mir nicht mehr Gedanken gemacht, nicht öfter versucht habe, sie im Krankenhaus anzurufen. Meine Oma hat zeit meines Lebens immer an Weihnachten Plätzchen gebacken, niemand von uns hat ihr Kekse in die Klinik gebracht. Natürlich hat sie da schon so wenig gegessen, aber dennoch… man hätte so viel anders machen können. Meine Oma war einfach immer selbstverständlich. Im Grunde genommen habe ich eine Frau, die mich jede Sekunde meiner Existenz geliebt und unterstützt hat, im Stich gelassen. Zumindest fühlt es sich so an. Wie ertrinken, wenn das Wasser langsam deine Lunge füllt und du nicht einmal mehr schreien kannst.

Ich weiß ehrlicherweise auch nicht, wieso ich die ganze Geschichte hier aufschreibe, ob ich nicht vielleicht in gewisser Weise meine Oma weiter instrumentalisiere, ohne dass sie sich wehren kann. Es ist keine fantasievolle Erzählung, es gibt kein Happy End, sie ist nicht gut geschrieben, ohne bedeutungsvolle Metaphern oder schlaue Alliterationen. Aber es ist so schwer, mit anderen Menschen über Trauer zu sprechen und wie zerstört man sich innerlich fühlt. Wenn deine Großeltern sterben, wird von dir erwartet, dass du kurz traurig bist, aber dann sollst du bitte wieder ordentlich funktionieren. Sie sind alt und das ist immerhin der „normale” Lauf der Dinge. Denk an deine Zukunft. Ein Satz, den ich schon immer gehasst habe. Im Moment gibt es nichts in der Zukunft, das mich interessiert. Es ist die Vergangenheit, die ich zurückmöchte. Wenn Frauen in Deutschland im Durchschnitt 83 Jahre alt werden, kann ich mir nicht vorstellen, die nächsten 59 Jahre ohne meine Oma leben zu müssen. Wie soll das denn auch gehen? Sie war es ja, die mir immer den Rücken freigehalten hat.

© whatever 2022-02-22

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