Schüler auf der Flucht

Gabriele Koubek

von Gabriele Koubek

Story

Eduard ist mein Schwiegervater. Er ist 90 Jahre alt und wünscht sich zum Geburtstag eine Reise in die Vergangenheit, nach Vorarlberg an den Körbersee.

Der See liegt inmitten einer beeindruckenden Bergkulisse und ist nur zu Fuß erreichbar. Keine Straße führt dorthin, es gibt nur einen Wanderweg. Der fast einstündige Fußmarsch vom Parkplatz zum See ist für Edi keine Schwierigkeit. Er ist sein ganzes Leben lang in den Bergen unterwegs gewesen, wenn auch nicht immer freiwillig.

Eduard wurde 1929 als Jüngster von 10 Geschwistern in der Steiermark in eine Arbeiterfamilie hinein geboren. Geld für eine gute Ausbildung gab es nicht, aber Edi hatte Glück.

Das Theresianum in Wien hatte jedes Jahr einige begabte Schüler aus den Bundesländern getestet und ausgesucht und an sie ein Stipendium vergeben.

Edi war einer davon und so durfte er dieses Elitegymnasium mit Internat in Wien besuchen.

Aber es war Krieg. Die Internatsschüler mussten nach den Schulstunden bei den Aufräumarbeiten mithelfen. Das bedeutet, dass sie nach einem Bombenangriff in die zerstörten Häuser gehen mussten, um die Toten wegzuräumen. Das ist keine Arbeit für Kinder und Jugendliche aber die Männer waren im Krieg und diese Arbeit musste gemacht werden.

Viele Burschen aus der Oberstufe wurden auch schon eingezogen und traten ihren Dienst an der Front anstatt sich ihrer Ausbildung zu widmen.

Edi war in seiner Klasse einer der Jüngeren und außerdem weder groß noch kräftig. Bei der Musterung hatte einer der diensthabenden Männer ein Einsehen und Edi wurde zurückgestellt. Deshalb durfte er in der Schule bleiben. In seiner Klasse waren nur mehr eine Handvoll Schüler.

Als im Mai 1945 die russische Armee Wien immer näher kam, wurden die Schüler des Theresianums in den Westen gebracht.

Zwei der unteren Klassen kamen nach Vorarlberg an den Körbersee. Edi war schon 16 und durfte als Aufsichtsperson mitfahren. Die Schüler wurden im heutigen Hotel am See untergebracht. Damals war es ein Gasthaus ohne Gäste. Natürlich waren zu der Zeit keine Wanderer oder Ausflügler unterwegs. Das Haus war groß genug um beide Schulklassen unterzubringen und zu verstecken.

Die Kinder mussten bei der Arbeit der Bergbauern mithelfen. Zu ihren Aufgaben gehörte es einen Kartoffelacker zu bearbeiten, um für den Winter einen Vorrat anzulegen. Auch den Käse, der auf den Almen hergestellt wurde, wurde von den Schülern ins Tal gebracht. Dafür waren oft mehrstündige Fußmärsche im steilen Gelände zu bewältigen.

Der Aufenthalt am Körbersee war kein Erholungsurlaub aber den Schülern ist es dort sicher besser gegangen als vielen Kindern in Wien und sie konnten weiter lernen ohne täglich um ihr Leben fürchten zu müssen.

© Gabriele Koubek 2019-09-13

Genres
Biografien
Stimmung
Informativ
Hashtags