Schwanensee

Emma Breuninger

von Emma Breuninger

Story

Wie liebe ich diese wunderbare Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Wie liebe ich dieses Ballett und die Geschichte! Anscheinend habe ich Schwanensee schon lange vor meiner Geburt geliebt.

Sommer 1952 – Mutti und Papa gönnen sich einen schönen Abend im Bolschoj Theater in Moskau, natürlich nur in Begleitung eines Offiziers der Staatssicherheit, denn die extra für die “Deutschen Spezialisten” gebaute Wohnsiedlung nordwestlich von Moskau dürfen sie ohne Begleitung nie verlassen. Mutti ist schwanger mit mir, Ende zweiter, Anfang dritter Monat. Sie genießen “Лебединое Озеро” – Schwanensee, die Musik, den Tanz.

In der Pause muss Mutti auf die Toilette. Erschrocken kehrt sie zurück und flüstert Papa zu: “Ich verliere Blut”. Den zweiten Teil des Balletts können beide nicht mehr genießen. Wie oft hat mir Papa erzählt, dass er nur noch dachte: Wie bekomme ich meine Frau möglichst schnell in eine gute Klinik?

Mit dem Taxi geht es zurück in die Siedlung. Der Offizier sorgt noch dafür, dass eine Krankenschwester kommt und nach Mutti schaut. Am nächsten Tag muss sie für vier Wochen in die Klinik und darf nur liegen. Sie rettet mich. Im Januar 1953 werde ich geboren.

12. April 1986 – 34 Jahre später: Seit 5 Jahren lebe ich in Mexiko-Stadt. Jedes Jahr im Frühjahr führt das Ballett des Instituto de Bellas Artes “El Lago de los Cisnes” – Schwanensee auf. Unter freiem Himmel, mitten im Chapultepec-Park. Die Tänzer rudern über den See hinüber zu zwei Inseln und tanzen dort. Das Orchester spielt live. Vor und zwischen den Inseln schwimmen Schwäne umher. Schwanensee im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich bin hochschwanger. Heute ist der berechnete Geburtstermin, doch noch tut sich nichts. Mit Ehemann, Schwager und Schwägerin sitzen wir auf der Tribüne und genießen diese besonders schöne Atmosphäre, die Musik, den Tanz. Ich denke an Mutti!

In der Pause muss auch ich auf die Toilette, doch nirgends ist eine zu finden. Meine Schwägerin begleitet mich. Wir suchen einen geeigneten Platz in der Natur, irgendwo im Park. Im Dunkeln finden wir ein Denkmal, hinter dem ich dann endlich…

Juni 2017 – mit meinem längst erwachsenen Sohn spaziere ich durch den Chapultepec-Park und suche nach besagtem Denkmal. Wem ist es gewidmet? Wir entdecken eine “Allee der Poeten” – lauter Denkmäler an mexikanische Poeten. Hinter dem ersten Denkmal habe ich vermutlich damals… Es ist das Denkmal an Antonio Plaza (1833 – 1882).

Und dort ist die Tribüne und da drüben sind die beiden Inseln. Ja, es ist alles noch genauso wie damals. Einige Schwäne schwimmen auf dem See.

Mein Sohn wird ganz andächtig und meint: “Nach 31 Jahren bin ich jetzt wieder hier”.

© Emma Breuninger 2021-12-15