von Gabriele Müller
Am Sonntag werde ich schon früh wach und stehle mich aus dem Zimmer, um Klara nicht zu wecken. Das Foto von Mutti nehme ich mit in die Küche. Ich stelle es so hin, dass ich es beim Frühstück gut sehen kann. Endlich haben wir ein bisschen Zeit für uns allein…
Es kommt mir alles so unwirklich vor. Natürlich weiß ich, dass sie tot ist. Ich hab sie ja selber gesehen. Aber der Gedanke daran ist noch so neu. Ich bin noch gar nicht wirklich traurig, weil ich es einfach nicht begreife.
Ich rufe Erich an. Er meldet sich nicht. Sonderbar. Er wird doch nicht etwa wieder beleidigt sein? War er nicht gestern schon sehr wortkarg? Hab ich etwas gesagt oder getan, dass ihn gekränkt haben könnte? Auch egal. Ich hab jetzt keine Zeit für eine Beziehungskrise. Das darf ja nicht wahr sein! Nicht mal wenn meine Mutter stirbt kann er seine primadonnenhaften Allüren ablegen. Ich schenke mir noch eine Tasse Tee ein und lege eine CD auf. „La Llorona“ ist jetzt genau das Richtige. Diese Musik balanciert auf der Kante zwischen abgrundtiefer Traurigkeit und ausgelassener Fröhlichkeit. La Llorona – die Weinende. Beim zweiten Anruf wird mit mürrischer Stimme gefragt, was ich denn wolle. War meine Vermutung also richtig! Nach zwei, drei Sätzen streiten wir bereits lautstark. Ich schmettere noch ein „blöder Egoist!“ ins Telefon und lege auf. Nun heule ich wirklich.
Klara kommt in die Küche. Ich stelle ein zweites Gedeck auf den Tisch und richte ein Frühstück. Ich will nicht, dass sie mich weinen sieht. In gespieltem Konversationston frage ich, wie sie geschlafen hat. Sie erfasst die Situation dennoch sofort. Ist ja nichts Neues. Von hinten umarmt sie mich und mir kullern die Tränen nur so über die Backen und aufs Toastbrot. Wir mampfen lustlos, reden wenig und starren immer wieder auf Muttis Porträt, neben dem wieder ein Teelicht brennt. … und das ewige Licht leuchte ihr. Diese alten Rituale haben tatsächlich etwas Tröstliches.
Es läutet an der Tür. Wer kann das jetzt am Sonntagvormittag sein? Ich trotte zur Sprechanlage. Erich meldet sich mit blöder Egoist. Wir umarmen uns noch unter der Tür und drücken uns und heulen beide. Es tut gut, sich zu versöhnen.
Wir frühstücken zu dritt zu Ende und planen den Tag. Wir ergänzen die Liste der einzuladenden Trauergäste noch um ein paar Namen. Klara schlägt die meisten vor. Sie hat ihre Oma gut gekannt und mit ihr offenbar viel intimere Gespräche geführt als ich das jemals durfte.
Dann ziehen Klara und ich uns an. Schwarze Hose, schwarzer Pulli wie bereits gestern. Das wird nun für länger mein Outfit sein. Heutzutage fällt das aber kaum mehr auf, wenn jemand in Trauer ist, weil viele sowieso gern schwarz tragen. Als meine Oma damals gestorben war, trug meine Mutter lange schwarz. Es sah wirklich traurig aus. Besonders die schwarzen Strümpfe. Meine Mutter hatte ja in jüngeren Jahren immer nur Kleider und Röcke getragen.
Ich schaue mich in den Spiegel. Eigentlich elegant.
© Gabriele Müller 2020-08-22