von MMM
»Die größten Übel der Welt werden von den Schrecken ihrer Stille begleitet.« Sie lächelt mich verschmitzt und leicht ertappt an und gibt mir einen kleinen Stoß mit der Hüfte. »Wenigstens weiß ich, wie man ab und zu mal die Klappe hält«, erwidert sie und schmiegt sich sodann wieder an mich. Sie legt langsam ihren Kopf auf meine Schulter und schließt vertrauensvoll ihre Augen. Sie kann unbesorgt sein. Ich werde sie beschützen, egal was komme. Wir haben uns ein kleines Boot geliehen, um nachts romantisch über das ägäische Meer zu treiben.
Abgesehen von Mond und seinen eigenen Reflexionen im Wasser ist es völlig finster. Das friedliche Rauschen der Wellen wiegt uns mit seinem eigenen melodischen Rhythmus hypnotisch in den Schlaf. Dem Sirenengesang in Nichts nachstehend werden wir in eine arglose Vertrauensseligkeit gegenüber dem erbarmungslosen Meer verführt. Unser Boot ist umgeben von den abertausenden gierigen Fingern der dunklen See. Mit einem jeden neuen Wellenschlag versuchen die Ungeheuer der Ägäis, sich in die Außenhaut des Bootes einzubohren und es zu fassen, um uns alle mit sich in die Tiefe zu ziehen. Und erst unter dem Meeresspiegel erwarten uns die wahren Grausamkeiten der See. Nach Luft, der wir längst entrissen wurden, ringend werden wir in das bodenlose Loch des Aigaion gezogen und unter den Massen der Fluten erdrückt und muss mit ansehen, wie meine Liebste vor meinem hilflosen Selbst, von den unersättlichen Meeren geraubt wird.
»Mach doch die Augen zu.«, flüstert die Stimme süßer Erlösung auf meiner Schulter.
»Ich dachte, du schläfst schon. Ist dir doch kalt geworden?«
»Ne, ich hab nur die Augen geschlossen und dem Wellenrauschen gelauscht.«, sagt sie verträumt und rückt ihren Kopf auf eine gemütliche Position auf meiner Schulter.
»Ich hab mir die Wellen angesehen«, erwidere ich.
»Dann lass sie uns zusammen anschauen.«, blickt in Richtung Küste.
»Hast du eine Uhr?«, frage ich sie. »Nein, wieso?«, fragt sie zurück.
»Mir fällt da nämlich gerade etwas ein«, beende ich und wende meinen Blick ebenso der Küste zu.
Eine Welle nach der anderen bricht über das Festland ein. Die steinernen Wächter der Brandung parieren jeden Schlag, es ist ein einseitiger Kampf, doch im Angesicht einer aussichtslosen Lage bleibt das Land standhaft. Schlag auf Schlag geht es weiter, doch ihr Gegenüber würde weiterhin unbeeindruckt bleiben. Die Angriffe der schwarzen Ägäis kommen schnell, doch verlieren langsam an Höhe und an ihrer Schlagkraft. Noch einige Male schlägt es auf, bis es sich vollständig verausgaben würde. Es kehrt Ruhe in die See ein. Sie überdenkt ihre Lage und entscheidet sich alsbald für den Rückzug. Langsam befreit sie das Land von ihrer Belagerung und die gierigen Hände der schwarzen Armee ziehen sich langsam ins Herz ihres Territoriums zurück, doch schwören noch im Abgang, bald wiederzukehren, um die Eroberung auf ein Neues zu beginnen. Und der Mond wird ihr aller Zeuge sein, auch wenn wir es nicht mehr sind.
© MMM 2022-08-28