Schwarze Winkel

Bianca Müller

von Bianca Müller

Story
Buchenwald, Neuengamme 1938 – 1941

Im Ahnentunnel tragen 124 Personen das Recherche-Kennzeichen KZ. Die wenigsten haben die Konzentrationslager überlebt. Viele mosaischen Glaubens. Einige noch Kinder. Manche vielleicht Idioten. Zwei relativ nahe Verwandte. „Liebe Mama, ich gehe nun Berit entgegen. Catrin Ich kenne Catrin und auch ihre Mama nicht; weiß nicht, wer Berit war. Ich hatte Gänsehaut beim Anblick der Buchenwald-Postkarte. Häftling 3867 kannte ich auch nicht. Diese Ziffern, sonst schnöde die Hälfte meiner Postleitzahl, standen vom 21. Mai bis 7. Juli 1938 für Gustav Denks, meinen Urgroßonkel väterlicherseits. Onkel Gustav, der in Buchenwald an diesem Juli-Morgen um 6.40 Uhr gestorben ist. Akute Herzschwäche. Sagt das Diensttagebuch des Blockführers. Märchen bescheinigt man gemeinhin einen höheren Wahrheitsgehalt als solchen KZ-Dokumenten. Onkel Gustav, der im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ verhaftet wurde. Arbeitsscheu, im Dritten Reich ein Ausdruck aus dem Sammelbegriff Asoziale. Bettler, Prostituierte, Obdachlose, Trinker, Menschen ohne geregelte Arbeit usw. Kurz: Soziale Unterschichten. Onkel Gustav, von dem ich nicht weiß, was ihm angelastet wurde. Onkel Gustav aus Block 21. Onkel Gustav, der neben 1 Mütze, 1 Rock, 1 Hose, 1 Weste, 2 Hemden, 1 x Schuhen, 1 x Strümpfen und 1 Halstuch bei der Einlieferung in 47 Tagesraten auch sein Leben abgegeben hat. Onkel Gustav, der geschiedene Klempner. Onkel Gustav, der nur 30 Jahre alt geworden ist. Onkel Gustav, den Omi Traudi zwischen den Geschwistern ihres Vaters mit dem Buchenwald-Stichwort einfach so aufgezählt hat. Ich hätte ja eher fragen können. Fragt! Ernsthaft: Fragt!

Gestorben in Hamburg-Neuengamme. Nicht ungewöhnlich. Fritz Mieglich aus Züllichau wäre nicht der erste Tunnelpassagier, den es woanders hin verschlagen hätte. Dass ein Kriminaloberassistent den Tod meines mütterlichen Urgroßonkels 2. Grades im Januar 1941 angezeigt hat, war zumindest kurios genug, Neuengamme zu googeln. Bis dahin war mir nicht bewusst, dass es dort ein KZ gab. Manchmal erschreckt mich, wie viel ich noch nicht weiß. Man lernt nie aus. Zweifelsohne ein Vorteil der ganzen Tunnelei. Bei meinem Besuch der Gedenkstätte habe ich erfahren, dass Fritz mit dem Präfix Aso inhaftiert wurde. Wieder: A wie asozial. A wie Arbeitsscheue, Alkoholiker etc. A wie übliche NS-Propaganda. Kann stimmen, muss aber nicht. Als ob ich von allein nicht genug Fragen hätte! Als Aso-Inhaftierte mussten Gustav und Fritz einen schwarzen Winkel auf der Kleidung tragen. Bei politischen Häftlingen war er rot, bei Homosexuellen rosa etc. Jedes Stigma bekam seine eigene Farbe im Regenbogen des Grauens. Durch Fritz‘ Häftlingsnummer 3431 konnte das Hausarchiv ableiten, dass er am 19. November 1940 registriert wurde. Damals war Neuengamme als Sachsenhausen-Außenlager noch im Aufbau. Wahrscheinlich ist daher, dass Fritz beim Barackenbau, Fundamente-Ausheben oder Planieren des Appellplatzes eingesetzt wurde. Sein Tod wurde im Sonderstandesamt A registriert. Das hat die SS extra eingerichtet. So ließ sich gut verschleiern, dass 42.900 Häftlinge nicht alle an Herz-/Kreislaufschwäche gestorben sind. A wie abartig. Natürlich wüsste ich gern, ob Opi Karl seinen Cousin kannte. Züllichau war eine Kleinstadt. Sammelt die SS Verwandte ein, ohne dass man es mitbekommt? Diese Fragen! Zweifelsohne ein Nachteil der ganzen Tunnelei.

© Bianca Müller 2024-03-11

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Informativ, Traurig
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