Schwarzfahren is “not cool”

Anatolie

von Anatolie

Story

Mit meinem Freund besuchte ich gern seine in Luton studierende Schwester. Per Bahn ging’s bis nach London, und von dort aus noch ein Stück weit Richtung Norden. Giota und Haris waren Anfang 20, die Eltern schickten ihnen regelmäßig Geld. Trotzdem war auch Haris hin und wieder blank.

„Lass uns den letzten Zug nehmen“, beschlossen wir eines Tages vor der Heimreise. Eine Bekannte wusste aus angeblich sicherer Quelle, dass die Zuggarnitur vor Mitternacht normalerweise nicht kontrolliert wurde. Wir hielten während der ganzen Fahrt den Blick zum Gang geheftet und passten auf wie die Haftelmacher. Aber wir hatten Glück, alles blieb ruhig. Mit dem ersparten Geld konnten wir uns bei Tesco ordentlich mit Lebensmitteln eindecken. Beim nächsten Mal lief es nicht so glatt. Auf halber Strecke stieg ein Uniformierter zu. Husch, ab in die Toilette! An diesem sehr beengten und ausgesprochen unromantischen Ort hielten wir nervös den Atem an. Während draußen Türen auf und zu schwangen und schwere Schritte zum Greifen nah an uns vorbei stapften. Ich hatte die Kabinentür nicht verriegelt. Womöglich deshalb fielen wir in unserem Versteck nicht auf.

Vor den Osterferien besuchte mich meine Freundin Paula in Portsmouth. Nach einem abschließenden London-Trip wollte sie mich noch einmal sehen, bevor sie zurück nach Graz flog. Wir verbrachten einen tollen Tag im Zentrum der britischen Metropole. Ich hätte noch eine Nacht bei ihr dranhängen können. Aber dann musste ich am Morgen ein Zugticket lösen! Ich entschied mich doch lieber für die Variante mit dem „last train“.

Schon beim ersten Stopp war für mich Endstation. Ein Schaffner befand sich gerade auf Heimfahrt und bei der Gelegenheit checkte er noch einmal alles durch. Wenn ich nicht bezahlen könne (mit Aufpreis natürlich) dann müsse ich eben aussteigen! Jetzt. Sofort.

Da stand ich nun in diesem Vorstadtkaff, die Bahnhofshalle war verschlossen. Ein Stück weiter ragte das Gerippe eines Rohbaus in die Nacht hinein. Sollte ich etwa hier die Stunden bis zum Morgen zählen? Ich lief ein paar Schritte bis zu einer Haltestelle. Die Autostraße lag, wie der fog-bedeckte Himmel über mir, leer und wie ausgestorben da. In der Nacht des hohen Feiertags würde keine Menschenseele zu dieser Uhrzeit fahren. Oder doch? Ich stellte mich zum Auto stoppen an den Fahrbahnrand. Nach fünf Minuten kam ein Fahrzeug… zehn Minuten später fuhr ein zweites. Das dritte hielt an. Ein netter Mensch, der einen Weg in Richtung Süden hatte, las mich auf und bewahrte mich so vor einer schrecklichen Unterkühlung oder gar noch schlimmerem. Er fuhr sogar noch 20 Kilometer weiter bis vor meine Haustür. Er wartete bis ich aufgeschlossen hatte und winkte mir noch einmal zu, bevor er selbst den Heimweg antrat. Seinen Namen habe ich leider längst vergessen. Aber ich erinnerte mich ganz vage an dunkle Locken und an ein freundliches Lächeln in seinem Gesicht.

Meine Lust auf Zug-Abenteuer „dieser Art“ war mir seit jeher gründlich vergangen.

© Anatolie 2023-01-05

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