von Patrik
Erneut zerreißt ein lauter, nach Angst und Schmerz klingender Schrei das leise Rauschen der Wellen. Es herrscht geschäftiges Treiben auf dem schmalen, ins Wasser führenden Holzsteg. Unterschiedlichste Waren werden in die kleinen Boten ein- oder ausgeladen, die den Steg zu beiden Seiten säumen. Die Sonne steht im Zenit und die Hitze ist nur dank der leichten Meeresbrise erträglich. Fast jeder Kopf ist bedeckt mit einem Nón lá, dem traditionellen vietnamesische Kegelhut.
Die einzigen Touristen auf dem Steg betrachten den regen Ablauf des Beladens fasziniert. Drei Männer Mitte 20, ihre Nacken wegen fehlender Kopfbedeckung rot vom Sonnenbrand. Sie haben große Rucksäcke geschultert – klassische Backpacker aus Europa. Der Grund für ihre Faszination sind kleine Metallkäfige, die sich zu beiden Enden hin kegelförmig verjüngen. Die Käfige schweben etwa einen halben Meter in der Luft, getragen von zwei Menschen mit Nón lá.
Acht Schweine werden in diesen Käfigen über schmale Holzlatten auf ein kleines Schiff geladen. Ihre kleinen Beine baumeln unten durch das Drahtgestell heraus, die Schnauze schabt gegen das raue Metall. In ihren Augen die Panik, die sie ihrem Schicksal entgegenbringen. Lebend werden sie auf die Insel Quan Lan transportiert, denn die Überfahrt dauert vier Stunden und so spart man sich die Kühlung des Fleisches.
So eine Szenerie hatten sich die Backpacker nicht vorgestellt, als sie eine Bootstour etwas abseits der von Tourist*innen überlaufenen Halong Bay planten. Doch hier zeigt sich der Alltag der Einheimischen: auf demselben Boot, mit dem nun alle auf die Insel fahren, werden auch Waren transportiert – manchmal auch lebende. Das laute Geschrei der Schweine ist für diese Vietnamesen so normal wie die stumme Plastikverpackung des Schnitzels im Supermarkt für die drei Europäer.
Die Schreie klingen langsam ab und werden abgelöst von aufgeregtem Grunzen. Die Schweine haben ihren schaukelnden Einstieg ins Boot hinter sich und liegen nun eng, Käfig an Käfig, nebeneinander im Bug des Schiffes. Die Nähe ihrer Artgenossen beruhigt sie wohl etwas. Jetzt steigen auch die wartenden Menschen inklusive der Europäer ein, die natürlich wie immer, zuerst um den Preis der Überfahrt feilschen müssen. Weiße Schweine in Menschengestalt.
Als das Schiff langsam ablegt und Richtung offenes Meer fährt, wird der Seegang stärker. Mit den zunehmenden Schaukelbewegungen werden die Schweine wieder unruhig und beginnen erneut im Chor zu schreien. Selbst in der geschlossenen Kajüte sind sie noch laut genug zu hören, um die Gespräche der Passagiere zu übertönen. Schreie, die die Menschen in Deutschland nie hören, wenn sie im Supermarkt einkaufen. Ebenfalls geschlachtet von Vietnamesen, die in den deutschen Schlachtbetrieben nicht viel besser behandelt werden, als die Schweine in den kleinen Metallkäfigen.
© Patrik 2023-10-04