von Gerhard Maier
Ob sich im Detail alles genau so zugetragen hat, kann ich nicht beschwören. Aber es ist genauso, wie ich es aus Erzählungen meines Vaters in Erinnerung behalten habe.
Basel am Heiligen Abend 1954: Ein Architekt und sein Angestellter, mein Vater, fahren mit einem kleinen Auto durch die Stadt, um ausstehende Honorare einzutreiben. In einer Villengegend stellen sie das Auto einige hundert Meter vor ihrem Ziel ab und gehen im leichten Nieselregen zu Fuß zu einem schmiedeeisernen Tor. Am stöckelgepflasterten Vorplatz steht standesgemäß ein großer Mercedes. Die Haustüre ist eine gediegene Holz-Glaskonstruktion, der Architekt läutet. Ein Dienstmädchen öffnet die Tür, sie scheint den Architekten zu kennen und fragt, mit österreichischer Sprachfärbung, ob er einen Termin hätte. Der Architekt verneint, das Dienstmädchen meint, sie werde nachfragen, ob die beiden Männer empfangen werden, sie sollen in der Diele warten.
Nach ein paar Minuten bittet das Dienstmädchen in den Salon weiter, wo die beiden wieder warten müssen. Sie sind mit Anzug und Krawatte korrekt gekleidet. Der Hausherr erscheint ebenfalls mit Anzug und Krawatte. Der Architekt trägt seine Bitte vor, ob das noch ausstehende Honorar nicht umgehend beglichen werden könne, am besten gleich.
„Ach Ruedi, heut‘ ist doch Weihnachten!“, wehrt der Hausherr den Versuch ab. Die Bittsteller rücken unverrichteter Dinge ab und trotten durch den Nieselregen zurück.
Nun sehe er selbst, wie schlecht das Geschäft in der Schweiz momentan laufe, meinte der Architekt zu meinem Vater. Am besten wäre es wohl, wenn sie das Anstellungsverhältnis lösen würden. Mein Vater war sofort einverstanden, so richtig glücklich war er in den letzten Wochen ohnehin nicht. Den Heiligen Abend verbrachte er mit ein paar anderen Österreichern in einer Hotelbar. In den nächsten Tagen ging es mit dem Zug zurück nach Salzburg, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
Dabei hatte das Schweizer Abenteuer so schön begonnen, aus einer Emotion heraus. Zwei Jahre zuvor führte ihn die Maturareise mit seinem Freund und Mitschüler per Fahrrad und Zelt von Salzburg nach Oberitalien und dann in einem weiten Bogen durch die Schweiz. Im Gegensatz zu Österreich und Italien, die noch vom 2. Weltkrieg gezeichnet waren, erschien ihm die Schweiz als gelobtes Land. Die Eidgenossen konnten, umgeben von faschistischen Diktaturen, die finstere Zeit durchtauchen. Auch hier gab es alle möglichen Probleme, Erpressungsversuche der Nazis, Flüchtlinge und politische Diskussionen, was der richtige Weg sei. Aber trotzdem war die Schweiz reich und für viele Österreicher das Ziel, um als billige Gastarbeiter dort zu arbeiten.
Als mein Vater die Annonce sah, fuhr er sofort in die Schweiz und nahm die Stelle als Bautechniker an. Gearbeitet hat er in seinem Beruf aber nur ganz wenig. Seine Hauptaufgabe war Begleitperson des Architekten, der ihn als „seinen Österreicher“ für eventuelle Aufträge präsentierte.
© Gerhard Maier 2020-12-23