Schwester Judith 1

Sternenkind

von Sternenkind

Story

Eine sehr liebe Religionslehrerin habe ich vor kurzem zufällig beim HNO-Arzt getroffen. Ich habe sie 20 Jahre nicht mehr gesehen und mich gefreut, ein altes bekanntes Gesicht aus der Schulzeit zu erblicken. Beim Anmeldepunkt standen zwei Schwestern, eine kannte ich. Diese klammerte sich an ihren Rollator fest und suchte in dessen Netz nach ihren Geldbörserl. Sie zog dieses heraus und suchte nach ihrer E- Card. „Tut mir leid, ich kann sie nicht finden“, erklärte sie der Dame am Empfang. “Wir benötigen die E-Card!“

„Ich werde anrufen, vielleicht kann sie mir jemand bringen“, gab die Schwester und pensionierte Lehrerin von sich.

„Das hoffe ich!“, schnaubte die unsympathische und unfreundliche Frau.

„Schwester Judith sind Sie es?“, fragte ich sie und sie bejahte. „Es tut mir leid, ich kann mich nicht an Sie erinnern. Wann waren sie bei uns?“, gab sie Preis.

„1999 habe ich maturiert und ich hatte sie 1995 in Religion. Ich kann mich noch genau erinnern wie wir über unsere Namenspatronen gesprochen haben. Jeder ein Kärtchen bei einer Kirche holte und sie ins Religionsheft einklebte“, sang ich.

„Es hat sich viel verändert. Das Internat gibt es nicht mehr. Sie können mich duzen. Ich bin Marion Weber. Das ist mein weltlicher Name. Sind sie auf Facebook?“, fragte sie mich. „Wir können uns auf Facebook befreunden. Schick mir eine Freundschaftsanfrage!“, forderte sie mich auf und ich fand sie so was von cool.

Entschuldige ich muss die Schwester Brigitte anrufen, vielleicht findet sie die E- Card. Die betagte Ordensschwester zückte ihr Mobiltelefon aus der schwarzen Handtasche und rief die Schwester an. „Hallo Schwester Brigitte. Ich bin es Judith. Kannst du so freundlich sein, in mein Zimmer gehen und in der Schublade meines Tischens nach meiner E-Card suchen? Ich sitze gerade beim Arzt und kann sie nicht finden. Vielen Dank!“, sprach sie in den Apparat.

Dann wendete sie sich wieder mir zu. „Hoffentlich findet sie die Karte“, hoffte sie, es klang nach einem kleinen Gebet. Ich glaube mittlerweile, war ihr auch schon Angst und Bange vor dem unersättlichen Ordinationdrachen.

„Ich weiß nicht wie lange es noch mit uns geht. Unser Altersdurchschnitt ist 76 plus. Wollen sie nicht zu uns kommen? Wir brauchen Nachwuchs!“, fuhr sie mit einem melancholischen Ton fort.

Als Antworte funkelte ich sie aus vollen Herzen an. Die Stille und der Zeitgeist des 21. Jahrhundert sprachen Bände. Der betagten Schwester war es durchaus bewusst, dass sich heutzutage junge Menschen für andere Dinge interessierten als ein Leben in Keuschheit und strengen Regeln.

Es müsste schon eine gute Viertelstunde vergangen sein, da wählte Schwester Judith wieder die Rufnummer ihrer Kollegin.

„Ich bin es noch mal. Hast du sie gefunden? Nein? Wo könnte sie wohl sein? Kannst du bitte in meinem anderen Mantel nachschauen der hängt im Kasten. Danke, vielen Dank!“, erklang ihre leicht verzweifelte Stimme.

© Sternenkind 2020-05-13