von Gabriele Fürst
Hella hatte ihren Rucksack und den kleinen Rollkoffer im Gepäcknetz verstaut, wobei: das Netz war längst kein Netz mehr, sondern im Zuge einiger Modernisierungen der Eisenbahn festen Gepäckfächern gewichen. Den Ausdruck hatte sie wohl von ihrer Großmutter übernommen, die einmal – als Einschlafgeschichte- erzählt hatte, dass sie und ihre Schwester als sehr kleine Kinder auf einer langen Zugreise zu ihren Großeltern darin hatten schlafen dürfen. Sie würde Oma danach fragen.
Im Augenblick hätte Hella einen gut bewachten bequemem Schlafplatz gut gebrauchen können. Sie hatten sehr früh aufstehen müssen, um pünktlich am Bahnhof zu sein. Klare Sache, auch wenn sich ihre Mutter während der gesamten Autofahrt, die sie sich natürlich nicht hatte nehmen lassen, ständig dafür entschuldigte, dass es eben genau dieser frühe Zug hatte sein müssen, da es der Einzige war, der direkt bis Hamburg fuhr, ohne Umsteigen, weil: „Naja, das erste Mal und so weit und ohne mich und es tut mir leid!“ Und: „Entschuldigung, dass ich mir dieses Mal keinen Urlaub nehmen kann, um in den Ferien zu Oma mitzufahren!“ Oder: „Ich will nicht nerven, echt, aber Fahrkarten und Reservierung sind eingepackt? Entschuldigung, dass ich frage!“ Lena hatte die Augen gottergeben nach oben verdreht: „Mama, es ist alles da, auch die Brote und die Obstschachtel und die Wasserflasche!“ Sie hatte neben sich auf den zweiten Rücksitz geschaut, aber Hella war wie immer stumm geblieben. Sie würde Mama nie kritisieren oder auch nur einen ähnlich ungeduldigen Tonfall wie gerade eben Lenas anwenden. „….sicher da sein. Sie weiß, bei welchem Waggon sie stehen muss.“ Mamas Stimme hatte weiter hingeplätschert und wiederholt, was sie am Abend zuvor und davor noch einige Male erzählt hatte, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen oder aus Angst vor der Schlagzeile: „Gewissenlose Mutter schickt Dreizehnjährige allein auf Zugreise!“ Nämlich, dass Oma mit leicht hysterisch klingenden Worten nach Hamburg zum Bahnhof inklusive Bahnsteig und voraussichtlichem Halteplatz des Waggons beordert worden war. „Entschuldige, Mama, ich weiß, dass es eineinhalb Stunden mit dem Auto sind, die du hin und zurück fahren musst, aber anders geht es nicht! Ansonsten finden die Ferien zu Hause statt!“ Die Großmutter kannte ihre chaotische Tochter. Um ihr zu entgehen, war sie nach ihrer Pensionierung an die Ostsee gezogen, weit weg von Bayern. Sie bewohnte dort ein ehemaliges Leuchtturmwärterhaus, das schon Jahre zuvor der Familie als Feriendomizil gedient hatte. Das dazugehörige Dorf, ungefähr 10 Fahrradminuten entfernt, war noch immer touristisch wenig erschlossen. Dafür konnte man an Sommerabenden mit den Einheimischen an den geteilten Haustüren der reetgedeckten roten Klinkerhäuser ganz altmodisch „Klönschnacken“. Für ihre Enkel ziemlich unattraktiv, aber dafür gab es einen Reiterhof, an dem sich alle Kinder der Gegend trafen.
© Gabriele Fürst 2023-05-24