Wenn ich auf dem Balkon sitze und in die gleißenden weißen Berge schaue, wenn ich am Meeresufer wandle und mich im unendlichen Horizont verliere, wenn ich im Abendrot auf dem Berggipfel stehe und in die länger werdenden Schatten und das dunkelnde Tal blicke, bin ich nicht ruhig. Ich bin vielmehr bewegt von der Schönheit und einer Sehnsucht, die keinen bestimmten Inhalt hat – eine Unruhe, die ohne Ziel ist und in der keine Erfüllung denkbar ist. Hat es mit Vergangenheit zu tun oder mit Zukunft? Hat es damit zu tun, was ich hätte sein können und nicht war, was ich hätte tun können und nicht tat, oder damit, was noch kommen könnte, kommen muss? Was lockt mich – das Vergangene oder das Zukünftige?
Anders in der Dunkelheit, in der Abgeschiedenheit, in der Weite der Enge. Da fallen Versuchungen und Verlockungen weg, da bin ich ruhig.
Weiß ich überhaupt noch, was ich will? Die Zeit verrinnt, das Ende rückt näher. Löscht dieser Gedanke das Wollen aus? Die Absurdität des Wollens macht sich bemerkbar. Es ist so wurscht, ob ich diesen Berg noch einmal erklimmen kann, ob ich die Nordlichter noch zu sehen kriege oder die Düfte Sansibars erleben darf. – So lange ist es nicht her, dass Abenteuer auf meiner Wunschliste standen.
Nicht Resignation macht sich breit, weil manches nicht mehr möglich ist, sondern eher ein Gefühl von Unwichtigkeit. In meinem Bewusstsein kann ich sowieso alles erleben. Ich kann als kleines Mädchen mit den Wildgänsen fliegen. Ich kann als junge Studentin ein Semester in Valencia verbringen. Ich kann auf einer Farm in Kanada durch die Prärie reiten und ich kann mit einem Hundeschlitten in die Arktis aufbrechen. Alle Träume der Jugend in der Fantasie verwirklichen. Mein Bewusstsein hat sehr genaue Bilder, ohne es erlebt zu haben. Unendlich Vieles andere habe ich erlebt und bleibt für immer in meinem Gedächtnis.
Die Erinnerungen haben eine leuchtende, schwebende Leichtigkeit, die mich heraushebt aus dem mühsamer werdenden Alltag des Alters. Natürlich ist da noch viel Schönes, Lebens- und Liebenswertes. Dies soll kein Abgesang sein, sondern viel mehr eine Hymne an das Leben, das in jeder Lebensphase stattfindet.
Es ist nur so schnell geworden, schneller vergeht der Tag, die Jahreszeit, das Jahr. Die Blumen verwelken, kaum dass sie erblüht sind. Die Kinder gehen ihrer Wege und man möchte sie noch als Baby im Arm halten. Das Karussell dreht sich schneller und schneller hat Michael Heltau nach einem Chanson von Jacques Brel gesungen – und ich fliege mit.
“Mit dem ersten Glockenzeichen, da weiß ich nicht mehr wer ich bin, da verliert mein Name seinen Sinn. Da ist in mir nichts mehr zu halten, jeder Nerv vibriert – alles geht so schnell. In mir dreh’n sich viele Gestalten und irgendwas fährt mit mir Karussell. Wenn alles sich dreht. Ja, wenn sich alles dreht. Da will die Fantasie, dass dieser Schwindel nie an dir vorübergeht! Bevor dein Spiel beginnt, bist du wie ein Kind, dem sich vor einem Bild der große Traum erfüllt, dass Bilder Leben sind.“
© Christine Sollerer-Schnaiter 2022-03-16