Sechserbrücke

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

Berlin müsste eigentlich heißen „der Berlin“ – der Name hat slawischen Ursprung: br’lo / berlo (Sumpf, trockene Stelle im Morast). Berlin ist nicht nur auf märkischem Sand gebaut, auch im Morast von Havel (die Seenreiche) und Spree (die sich Ausbreitende). Deshalb gibt es viele Brücken – Berlin hat davon mehr als andere Städte.

Ich liebe Brücken, sie sind für mich nicht bloß Übergänge, einbetonierte Betonteile, sie sind Verbindungen, sind Über-“brückungen“. Helfer, um Gräben zu überwinden – haben eine Doppelfunktion: machen Perspektivwechsel möglich – bieten die Chance, alles von einer anderen Seite zu sehen – umzukehren, wenn die andere Sicht nicht zusagt – gleich oder später. Ich liebe ihre oft kunstvollen Ausrichtungen – wie Architekten versuchen, sich der Philosophie des zu Überbrückenden anzupassen – wo sie Gestaltungselemente einbauen, um dem Überquerenden zu sagen: „Geh, schau dir das Gegenüber an! Gönn dir eine andere Sichtweise. Aber dreh dich auch um“.

Meine Lieblingsbrücke – die „schönste der Welt“- ist die Oberbaumbrücke – eine neogotischen Backsteinbrücke, von Kreuzberg nach Friedrichshain – verbindet West mit Ost und wirkt – beleuchtet – besonders romantisch.

Die älteste (350 J) ist die Jungfernbrücke. Sie kann mit Ketten und Rädern in der Mitte angehoben werden. Für zu spät kommende Schüler eine gute Ausrede: „Die Brücke war jrade uffjezogen“. Die Glienicker Brücke war im Kalten Krieg konspirativer Austauschpunkt. Davor beschritten Könige und Kurfürsten sie, um von Potsdam im Grunewald zu jagen. Die klassizistische Schlossbrücke mit ihren monumentalen Figuren ist ein Baudenkmal von Schinkel, erinnert an die Befreiungskriege 1813-15. Die Straße „Unter den Linden“ wurde durch sie zu einer Prachtstraße zwischen Brandenburger Tor und Berliner Schloss. Über die Bornholmer Brücke drängten 1000e Ost-Berliner im November 89. Bei der Rhizomatischen Brücke haben sich die Architekten vom Wurzelgeflecht der Rhizome inspirieren lassen. Der Schwedter Steg hat einen wunderschönen Schattenwurf. Und die Kronprinzenbrücke sieht am schönsten von unten aus – mit ihren elegant geschwungene Trägern und dem filigranen Netz der seitlichen Stützen.

Meine Brücke war die Sechserbrücke – eine eiserne Fachwerkbrücke – eine Fußgängerbrücke über das Tegeler Fließ. Der Fährfischer, der früher Wanderer übersetzte, verdiente 5 Pfg. pro Wanderer – dieser „Sechser“ wurde später als „Brückenzoll“ beibehalten. Über die Bögen der Brücke kletterten wir Kinder. Als Tom Sawyer krabbelte ich auf und durch die seitlichen Stützen, schwang mich zu Huck Finn aufs Floß, das im Fließ trieb oder seilte mich von den Bögen ab, um Piraten auf der anderen Fließseite zu bekämpfen. „Todesmutig“ sprangen wir ins Wasser, schwammen an die Ufer, um die Brücke ebenso „todesmutig“ zurückzuerobern.

Die Brücke aber blieb immer gutmütig und ließ alles mit sich geschehen.

Sie war unser Sommertag-Spielplatz.

(Foto: A. Steinhoff)

© Heinz-Dieter Brandt 2020-07-10

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