Anklagend schaust du auf meinen Arm. Ich kann dir im Gesicht ablesen, dass du es nicht in Ordnung findest, dass ich meine Narben nicht verdecke. Dass ich sie in der Öffentlichkeit zeige.
Aber soll ich dir was sagen? Das ist mein Körper. Deshalb kann ich auch entscheiden, was ich anziehe. Und bei 30° im Schatten sind das sicher keine langen Ärmel.
Natürlich sage ich dir das nicht ins Gesicht. Du würdest sonst wütend werden, mich verurteilen. Stattdessen verstecke ich beschämt meinen Arm hinter meinem Rücken. Damit du ihn nicht mehr sehen musst. Damit du dich wohler fühlst.
Meine Gefühle sind egal. Ich passe nicht ins Gesellschaftsbild und deshalb muss ich mich beugen. Die Gesellschaft will nur glückliche Mädchen sehen. Meine Narben beweisen – rot auf weißer Haut – dass ich das nicht bin. Ich bin nicht glücklich. Und ich bin auch noch dreist genug, das öffentlich zu zeigen! Dein anklagender Blick ist also absolut gerechtfertigt. Ich habe deinen strafenden Blick verdient.
Aber weißt du was? Meine sichtbaren Narben sind nicht mal die Schlimmsten. Meine sichtbaren Narben sind nur die Spitze des Eisbergs. Was sich darunter befindet, kannst du dir gar nicht vorstellen. Die Narben, die du – wie den Rest des Eisbergs – nicht sehen kannst, das sind die Schlimmsten. Das sind die wirklich Schmerzhaften.
Du glaubst mir nicht, ich weiß. Denn du kannst sie nicht sehen, diese unsichtbaren Narben, diese Kratzer auf meiner Seele. Aber wie der Rest des Eisbergs sind auch sie da, sind auch sie real und nicht nur ausgedacht.
Wahrscheinlich glaubst du nicht mal an das Konzept einer Seele, hab ich recht? Denn du kannst sie nicht sehen. Und du glaubst nur an das, was du sehen kannst. Aber ist dir bewusst, dass das Unsichtbare meist das Gefährlichste ist? Denk nur mal an die Titanic. Nicht die Spitze des Eisbergs wurde ihr gefährlich. Das, was sich darunter befand, war die Gefahr. Das Unsichtbare hat sie zum Sinken gebracht. Genauso ist es auch mit den Seelenkratzern. Ist deine Seele einmal beschädigt, zieht sie dich in eine Abwärtsspirale – immer weiter und weiter hinab. Denn eine Seele heilt nicht so leicht. Aber ist sie einmal kaputt, ist es ganz einfach, sie weiter zu zerstören. Und genau das tue ich jeden Tag.
© Katrin Katzenmeier 2022-05-30