Seelenverloren – Kapitel 2: Gefangen

Nancy Riemer

von Nancy Riemer

Story
Edinburgh 1890

Duncan erwachte in völliger Dunkelheit. Ein stechender Schmerz durchzog seinen ganzen Körper, als hätte jede Faser in ihm gebrannt und wäre dann zu Asche zerfallen. Er versuchte, sich zu bewegen, doch seine Glieder fühlten sich fremd an, als wären sie aus Blei gegossen. Das einzige, was er wahrnahm, war die kalte, unerbittliche Leere in seinem Inneren, die ihm die Luft abschnürte.

Langsam schärften sich seine Sinne. Er konnte feuchte Erde und modriges Holz riechen. Die Dunkelheit um ihn herum war nicht bloß die Abwesenheit von Licht. Sie war grausam, als würde sie ihn verschlingen. Unbekanntes hämmerte in seiner Brust? Ein pochender Schmerz, der ihn quälte, während sein Körper sich gegen die Unmöglichkeit seiner Existenz wehrte.

Hastig setzte er sich auf. Die Luft fühlte sich anders an. Kälter, schwerer. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam ihn. Panik stieg in ihm auf, tastete er über seine Brust, als könnte er so das Unmögliche begreifen.

„Was…?“ Seine Stimme klang fremd in der Stille. Er spürte, dass etwas in ihm unwiderruflich zerbrochen war. Erinnerungsfetzen drangen in sein Bewusstsein. Clarissa, leblos auf dem Boden. Der Fremde, der ihm die Worte „Unsterblichkeit“ und „ewige Suche“ ins Ohr geflüstert hatte. Alistair.

Eine Welle aus Wut und Schmerz durchzog ihn, als er sich an die kalte, hämische Stimme erinnerte, die ihm sein Schicksal verkündet hatte. Als seine Hände sich zu Fäusten ballten, gruben seine Nägel sich in die Haut. Doch er spürte keinen Schmerz. Stattdessen erfasste ihn ein unbändiger Hunger. Hunger, wie er ihn nicht kannte.

Duncan wusste nicht, wie lange er in dieser kalten Finsternis gelegen hatte. Doch jetzt spürte er eine dunkle, unbändige Kraft in sich aufsteigen. Eine Macht, die nach ihm rief.

„Alistair…“ flüsterte er hasserfüllt. Er wusste, dass diese Kreatur für sein Schicksal verantwortlich war. Und nun war er verflucht, in einer ewigen Nacht zu wandeln, getrieben von einer Sehnsucht, die ihn niemals loslassen würde.

Er erhob sich taumelnd, musste seinen neuen Körper erst kennen lernen. Die Sinne überfordert von der plötzlichen Klarheit um ihn herum. Konnte er alles sehen, hören, riechen, was sonst verborgen geblieben war. Jeder Schritt war begleitet von der neuen, grausamen Erkenntnis, dass er nicht mehr der selbe Mann war.

Die Erinnerungen an Clarissa und ihre Liebe schienen wie ein ferner Traum, unerreichbar und doch allgegenwärtig. In seiner Brust wuchs eine einsame, schmerzliche Leere.

Duncan wusste, was er tun musste. Clarissas Seele, ihre Wiedergeburt finden. Und vor allem Alistair finden und sich rächen. Egal, wie lange es dauern würde, egal, welchen Preis er dafür zahlen musste. Schließlich trat er hinaus in die Nacht, die ihn mit offenen Armen empfing. Die Suche hatte begonnen.

© Nancy Riemer 2024-08-22

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Dark
Hashtags